Commuters wearing face masks walk along a street during the morning rush hour in the central business district in Beijing, Thursday, Feb. 16, 2023.
Report
15 min read

Debatten über Ende von Null-Covid, TikTok unter Druck und Beziehungen zur EU


China SpektrumDiese Analyse erschien in der Reihe China Spektrum, ein gemeinsames Projekt des China-Instituts der Universität Trier (CIUT) und des Mercator Institute for China Studies (MERICS). Das Projekt wird ermöglicht durch die Förderung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Mehr erfahren Sie hier.


Auf einen Blick

Chinas abrupte Kehrtwende in der Covid-Politik hat nicht nur die kommunalen Behörden, sondern auch Chinas Bevölkerung überrascht und überrollt. Auf dem am 5. März beginnenden 14. Nationalen Volkskongress wird in diesem Jahr nahezu die gesamte Regierung um Staats- und Parteichef Xi Jinping neu besetzt. Sie muss in Anbetracht zahlreicher Krisen ihre Geschlossenheit und Schlagkraft im In- und Ausland neu beweisen.

Die plötzliche Abkehr von Null-Covid hat Chinas Bevölkerung verunsichert. Die Folge könnte mehr Fragmentierung in Politik und Gesellschaft sein. Da es in der Volksrepublik an Mechanismen und Foren fehlt, Bedenken und alternative Ideen öffentlich auszudiskutieren, sind anhaltende Spannungen innerhalb der Gesellschaft und Kontrollreflexe der Regierung zu erwarten.

CHINAS ZUKUNFTSVORSTELLUNGEN

Große Öffnung, große Erleichterung? Chinas Netizens diskutieren Kehrtwende in der Pandemiepolitik

Beijings plötzliches Umschwenken in der Corona-Politik – das Ende von „Null Covid“ – Ende vergangenen Jahres löste heftige Debatten unter Chinas Netzbürger:innen aus. Auf der Frage-und-Antwort-Plattform Zhihu ringen vor allem zwei Lager miteinander: die „Koexistenzler“ (共存派), Befürwortende eines Lebens mit dem Virus, die daher auch die Öffnungsmaßnahmen gutheißen, gegen die strikten „Null-Covid-Anhänger“ (清零派). Chinas soziales Gefälle und sehr unterschiedliche Lebensrealitäten treten in den Diskussionen zu Tage.

CHINAS DIGITALE TRANSFORMATION

“Wir zensieren doch auch!” – Chinas Netzbürger:innen diskutieren US-Vorgehen gegen TikTok

Die USA haben seit Dezember 2022 die Nutzung der Kurzvideo-Plattform TikTok, eine nur für den ausländischen Markt angebotene App der chinesischen Firma Bytedance, stark beschränkt. Auch in der EU mehren sich die Stimmen für ein Verbot. Chinas IT-interessierte Netzbürger:innen betrachten das Vorgehen der USA gegenüber TikTok überwiegend nüchtern und verweisen auf die Sperrung von US-Plattformen in der Volksrepublik.

CHINAS ROLLE IN DER WELT

„Aufstieg des Ostens und Fall des Westens“? – Chinesische Expert:innen analysieren Risiken in den Beziehungen zur EU

Das hierzulande seit 2019 wahrgenommene Dauertief der chinesisch-europäischen Beziehungen wird auch durch die Analysen von Chinas führenden Forscher:innen in diesem Bereich bestätigt. Sie benennen die aktivere Rolle des EU-Parlaments, die wachsenden geopolitischen Spannungen und die zunehmende wirtschaftliche Entflechtung als Hauptursachen der Verschlechterung.

CHINAS ZUKUNFTSVORSTELLUNGEN

Große Öffnung, große Erleichterung? Chinas Netizens diskutieren Kehrtwende in der Pandemiepolitik

Was ist passiert?

Nach drei Jahren strikter Corona-Maßnahmen verkündete die chinesische Regierung im Dezember 2022 plötzlich das Ende der „Null-Covid-Politik“. Innerhalb eines Monats erließ die Zentralregierung in Form der „Zwanzig Maßnahmen“ und der „Zehn Maßnahmen“ Vorgaben für Lokalregierungen, eine „langsame Rückkehr zur Normalität bei minimalen Kosten durchzusetzen“. Lokale Behörden interpretierten die nur sehr vage formulierten Vorgaben zwar unterschiedlich, öffneten aber alles nahezu komplett, indem sie beispielsweise Ausgangssperren und Testpflichten aufhoben.

Wie sehr sich die Rhetorik der Zentralregierung schlagartig geändert hat, zeigt ein Blick in die staatliche Volkszeitung (人民日报). Bis Mitte 2022 wurde die „Dynamische Null-Covid-Politik“ (动态清零) als nationale Priorität und als Zeichen der Überlegenheit des chinesischen Systems im Umgang mit dem Virus kommuniziert. Die Regierung und staatliche Medien riefen wiederholt zum „Durchhalten“ (坚持) auf und verwiesen stets auf die große Gefahr des Coronavirus für die Bevölkerung.

Im November schlugen staatliche Medien dann plötzlich andere Töne an: Gesundheitsexpert:innen, die zuvor vor der Gefahr des Virus warnten, sprachen nur noch von einer „Corona-Erkältung“ (新冠感冒) und betonten die geringe Sterberate. Der bekannte Virologe Zhong Nanshan (钟南山) erklärte in einer Vorlesung, dass „die Bürger:innen keine Angst mehr vor der Omikron-Variante […] haben“ müssten.

Abbildung 1

Der plötzliche Umschwung in der Corona-Politik hatte weit mehr als nur eine einfache Erkältungswelle zur Folge. Eine Flut an Neuinfektionen überrollte Chinas Gesundheitssystem: Bilder und Videos von überlasteten Krankenhäusern und Krematorien kursierten in Chinas sozialen Netzwerken ebenso wie Hilferufe nach schnell ausverkauften fiebersenkenden Medikamenten wie Ibuprofen. Laut offiziellen Zahlen der nationalen Gesundheitsbehörde erreichte die Infektionswelle mit etwa 150 Millionen positiven PCR-Tests am 9. Dezember 2022 sowie 128.000 neuen Covid-Fällen in Krankenhäusern am 5. Januar ihren Höhepunkt. Falschinformationen, wie zum Beispiel über die Covid-lindernde Wirkung von Durchfallmitteln, verunsicherten die ohnehin besorgte Bevölkerung zusätzlich.

Was sagen chinesische Netzbürger:innen dazu?

Einblick in Diskussionen zur Öffnung geben zum Beispiel chinesische Onlineforen. Um Reaktionen aus der chinesischen Bevölkerung zu analysieren, haben wir auf Zhihu (知乎), einer populären chinesischen Frage-Antwort-Plattform, die Frage ausgewählt, die zum Thema der Öffnungspolitik bis Mitte Januar die meisten Antworten erhalten hatte: „Bereuen diejenigen, die die ganze Zeit nach Koexistenz mit dem Coronavirus gerufen haben, das jetzt?“ (那些当初整天喊着提倡和新冠共存的人现在有没有后悔? ).

Auf diese Frage wurden bis zum 17. Januar 2023 fast 6000 Antworten gepostet, von denen manche über 19.000 Likes erhielten. 1052 der Antworten wurden von anderen Nutzer:innen gelikt, davon haben wir die meist gelikten 20% auf Themen, Kritik und Positionierung zur Öffnung analysiert.

Zwei Extreme und eine breite Mitte

Unsere Analyse zeigt ein sehr gemischtes Bild, was die Verunsicherung der chinesischen Bevölkerung durch den plötzlichen Politikwechsel widerspiegelt. Im Meinungsspektrum finden sich die zwei Extreme: die „Koexistenzler:innen“ (共存派) befürworten die Öffnung und ein „Leben mit dem Virus“, während „Null-Covid-Anhänger:innen“ (清零派) die bisherige strenge Politik der Pandemiebekämpfung unterstützen. Neben diesen beiden Positionierungen überwiegen allerdings die Nutzer:innen, die sich keiner Position klar anschließen.

Beschuldigung der jeweils anderen Position

Das eine Lager beschuldigt Anhänger:innen der anderen Seite für deren als egoistisch empfundene Haltung (6,67%) der analysierten Posts.

So kritisieren die Befürwortenden der Null-Covid-Politik die Koexistenzler:innen für zu wenig Verantwortungsbewusstsein:

„[…] Die ‚Koexistenzler‘, die jubeln, wenn sie von der Öffnung hören, und die ihre Familien vernachlässigen, um zu feiern. Sie mögen in diesen Jahren aktiv sein und viele Spuren hinterlassen, aber der Wind der Geschichte wird sie mit Sicherheit wie Müll wegwehen.“

那些听到清零就如临大敌,听到开放就欢呼雀跃,不顾家人也要去凑热闹的“共存派”。也许他们在这几年会很活跃,会留下很多痕迹,但历史的风一定会像吹走垃圾一样吹走他们。

毒舌的Dr.Li, 2367 Likes

Die Koexistenzler:innen werfen umgekehrt den Befürwortenden der strikten Covid-Politik vor, dass sie nur an sich denken würden, auch weil sie aufgrund ihres privilegierten Status weniger unter den Maßnahmen gelitten hätten:

„Diejenigen, denen die Idee des Lockdowns gefällt, sind entweder Karrieristen, haben viel Geld oder ein persönliches Interesse an der Pandemie. Aber wissen Sie was? Die Mehrheit der Armen in China muss kämpfen, um über die Runden zu kommen. Die sind barfuß und Sie [die Null-Covid-Anhänger] tragen Schuhe.“

喜欢封控的要么事业单位,要么家底丰厚的,要么疫情既得利益者。但你知道吗?中国穷人以及在温饱线上挣扎的人占绝大多数,他们是光着脚,你们是穿着鞋。

李松林, 1187 Likes

Zweifel und Ablehnung der Null-Covid-Politik

In der Auswertung der Kommentare zeigt sich auch, dass viele Netizens (26,67%) die frühere Politik als nicht länger tragfähig betrachten:

„Eine Stadt zu versiegeln, um Null-Covid zu erreichen, ist wie einen Felsbrocken einen steilen Berg hinaufzuschieben, anfangs kann man noch durchhalten, aber die Kraft ist begrenzt und irgendwann kann man nicht mehr schieben.“

用封城来清零,就像是推着巨石上陡坡,一开始尚能坚持,但体力终究是有限的,终究有推不动的时候。

太行一棵草, 293 Likes

Verhaltene Akzeptanz der neuen Politik

Ein Großteil der Kommentierenden bezieht keine klare Stellung oder wägt ihre Position vorsichtiger ab. Viele akzeptieren die Öffnung als gegebene Tatsache, die sie zwar kommentieren, nicht aber ändern können. Obwohl sich die Kommentare auch auf Themen wie wirtschaftliche und gesellschaftliche Auswirkungen oder die langen Lockdowns beziehen, bleibt diese Gruppe in ihrer Positionierung eher neutral. Und während oft individuelle Situationen, wie die der Studierenden oder der Haustierhalter:innen, dargelegt werden, können viele Netizens der neuen Situation durchaus positive Aspekte abgewinnen:

„Ich bin besonders froh darüber, dass sich die düstere Atmosphäre der Seuchenkontrolle gelichtet hat und dass die Menschen um mich herum merklich weniger feindselig sind und einen freundlicheren Blick haben.“

特别开心,层层加码的疫情管控的阴霾散去了,身边的人明显戾气少了很多,眼神柔和了很多。

Anonym, 2433 Likes

Kritik an der Regierung

Nur ein kleiner Teil der Netzbürger:innen (3,33%) findet im Rahmen der Corona-Kehrtwende Anlass für direkte Kritik an der chinesischen Regierung. Deutlich mehr Kommentierende (12,4%) kritisieren nicht die Regierung direkt, sondern die konkreten Maßnahmen der Öffnungspolitik:

„Wenn die Öffnung richtig war, warum mussten dann die Kriterien für die Feststellung des Todes durch eine neue Coronavirus-Infektion nach der Öffnung überarbeitet werden? Warum hat die CDC [Chinesisches Zentrum für Krankheitskontrolle und -prävention] solch skandalöse Daten veröffentlicht? […] Rechtsstaatlichkeit ist kein Lippenbekenntnis, sondern geltendes Recht.“

如果放开是正确的,何至于在放开后修改新冠病毒感染死亡认定标准?何至于疾控中心公布的数据如此离谱?[…] 依法治国,不仅仅是嘴上说说.

协同教育, 237 Likes

„Es ist egal, ob man [pro-Null-Covid] oder [pro-Koexistenz] ist, die nationale Politik hat nichts mit einem zu tun, Null oder Lüge, man kann sie nur akzeptieren und dann im Internet rummotzen. Das ist alles!“

不管你是清零派还是共存派,国家政策都与你无关,清零也好躺平也好,你只能接受然后在网上哔哔赖赖。仅此而已!

不清不楚不明不白, 65 Likes

Abbildung 2

Bemerkenswert ist, dass sich unter den Kommentierenden Kritiker:innen und Anhänger:innen von sowohl Null-Covid-Politik als auch der neuen Öffnungspolitik finden. Beide Seiten bringen zum Ausdruck, dass sie als einfache Bürger:innen keinen Einfluss auf politische Entscheidungen haben und auch nicht nach ihrer Meinung gefragt werden. Direkte Kritik an der Regierung ist eher selten, kommt aber ebenso wie die Hinterfragung des „Systems“ vor.

Interessant ist weiterhin, dass das Coronavirus selbst sowie die von Regierung und parteistaatlichen Medien oft genannten „ausländischen Kräfte“ in dieser Diskussion nur selten thematisiert werden.

Neben der Erklärung ihrer individuellen Situationen und der Auswirkungen der Covid-Politik darauf befassen sich viele Kommentierende auch mit der entstandenen Debatte an sich: Positionierungen anderer Netizens werden hinterfragt und teils harsch kritisiert. Dabei thematisieren Nutzer:innen vor allem sozio-ökonomische Unterschiede und als unterschiedlich wahrgenommene Lebensrealitäten.

Was bedeutet das?

Die plötzliche Kehrtwende der zentralen Covid-Politik hat für Chinas Bevölkerung enorme Auswirkungen: Erkrankungen, Folgeerscheinungen sowie unzählige Todesfälle, aber auch eine abrupte Änderung der Lebensrealität nach fast drei Jahren strenger Maßnahmen und vieler Einschränkungen. Bürger:innen äußern sich auch über wiedergewonnene Freiheiten, eine neue Normalität und bessere wirtschaftliche Aussichten.

In den Online-Foren werden die Auswirkungen sowohl der strengen Covid-Politik als auch der plötzlichen Öffnung für die Bevölkerung diskutiert: Abhängig von der individuellen Lebenssituation positionieren sich die Netizens. Interessant ist die Diskussion vor allem, da die Regierung durch ihre politische Kehrwende ein Vakuum für Erklärungen geschaffen hat. Vor allem im Kontrast zur stark richtungsweisenden Kommunikation der letzten drei Jahre eröffnet dies nun neue Spielräume zum Ausdruck der eigenen Meinung und zur Diskussion verschiedener Positionen.

Diese Fragmentierung in der Politik wird auch innerhalb der Gesellschaft deutlich und online zum Ausdruck gebracht. Ein großes soziales Gefälle und sehr unterschiedliche Lebensrealitäten werden sichtbar. Abhängig von individuellen Lebensumständen, wie der familiären Situation, der Art der Arbeitsstelle und der persönlichen finanziellen Sicherheit, wirkten sich die Pandemiemaßnahmen unterschiedlich auf die Menschen aus. Anders als in demokratischen Gesellschaften fehlt es in der Volksrepublik an Mechanismen, diese gesellschaftlichen Spannungen offen zu thematisieren, auszuhandeln und im besten Fall abzubauen.

Die Online-Diskussionen machen deutlich, dass diese Spannungen existieren und ausgetragen werden, wenn eine Möglichkeit dazu besteht. Covid-Maßnahmen sind nicht der einzige Faktor, der gesellschaftliche Disparitäten deutlich macht und befördert. Die Sichtbarkeit der Diskussion um die chinesische Covid-Politik könnte aber ein Anlass für chinesische Regierungsbehörden auf verschiedenen Ebenen sein, die unterschiedlichen Lebensrealitäten innerhalb Chinas bei der Planung und Umsetzung politischer Maßnahmen stärker zu berücksichtigen. Für Beobachter:innen zeigt die Diskussion, wie divers und kontrovers Debatten auch in einem stark eingeschränkten Raum geführt werden können.

CHINAS DIGITALE TRANSFORMATION

“Wir zensieren doch auch!” – Chinas Netzbürger:innen diskutieren US-Vorgehen gegen TikTok

Was ist passiert?

Die US-Regierung hat die Nutzung von TikTok in den USA seit Ende Dezember 2022 stark beschränkt: Der Kongress, das Militär sowie die öffentlichen Verwaltungen von nahezu der Hälfte der US-Bundesstaaten haben die App auf den Diensthandys ihrer Mitarbeitenden gesperrt. Begründet haben die US-Parlamentarier den Schritt mit der Gefahr des Datenabgriffs von US-Nutzern durch Bytedance, TikToks Mutterunternehmen. Bytedance hatte Ende Dezember 2022 nach einem Leak interner Emails zugegeben, dass Angestellte in den USA und China auf personenbezogene Daten von US-Bürger:innen, unter anderem IP-Adressen von Journalist:innen, zugegriffen hatten.

Auch der EU-Kommissar für den Binnenmarkt, Thierry Breton, warnte den TikTok-Chef Shou Zi Chew in einem Videotelefonat am 19. Januar davor, dass die EU sämtliche Sanktionsmöglichkeiten ausschöpfen würde, sollte die Plattform für Kurzvideos nicht rechtzeitig vor dem 1. September 2023 die Regularien des Digital Services Act (DSA) erfüllen. Der DSA sieht unter anderem Geldstrafen und gegebenenfalls ein Verbot vor, wenn große Plattformen mit ihren Inhalten die Sicherheit der Bürger verletzten oder illegale Inhalte verbreiten.

Was sagen Chinas Netzbürger:innen dazu?

Das US-Vorgehen gegen TikTok ist auf den populären sozialen Medien-Plattformen kein großes Thema – möglicherweise, weil tatsächlich nur wenige in China TikTok nutzen, denn dort ist lediglich das Pendant Douyin zugänglich. Interessant ist allerdings, dass dennoch Posts über das Thema „USA gegen TikTok“ von den chinesischen Behörden zensiert werden, wie die Zensur-Beobachtungs-Webseite Freeweibo belegt.

Auch auf der Frage-und-Antwortplattform Zhihu, einer Gemeinschaft von IT-Interessierten, ist TikTok kein großes Thema. Dennoch findet sich dort ein bemerkenswertes Spektrum an Meinungen zu den Geschehnissen. Die größte Überraschung: Nationalistische Stimmen sind in der Minderheit.

Für die folgende Analyse haben wir auf Basis der Suchwörter „TikTok“ und „USA“ zwei Beiträge auf Zhihu ausgewählt (einen aus dem Jahr 2020 und einen aus dem Jahr 2022) und die Antworten bzw. Kommentare der Nutzer:innen nach Art ihrer Reaktion kodiert. Wir haben insgesamt 225 Beiträge ausgewertet, denen wir aufgrund ihrer Länge teilweise mehrere Reaktions-Kategorien zugeschrieben haben.

Abbildung 3

In der Auswertung zeigt sich, dass Chinas Netizens insgesamt eher gelassen auf das Vorgehen der USA gegen TikTok reagieren. Nationalistische Beschimpfungen und Rufe nach Gegenaktionen Beijings sind eher selten.

In den Beiträgen der größten Kategorie „Keine Aufregung gegenüber den Aktionen der USA gegen TikTok“ schreiben die Kommentatoren oft, dass die USA letztlich nichts anderes täten als die chinesische Regierung auch:

„Wir dürfen Facebook auch nicht benutzen. Warum sollten wir uns abmühen, darüber zu diskutieren.“

我们一样不能使用脸书,何必这么费力去讨论研究.

Yueguangpuzhao, 28.12.2022

Manche reagieren mit einem ironischen Unterton:

„[Die USA] sollten China folgen und [TikTok] einfach blockieren, so einfach ist das.“

就应该学中国,直接封掉,就是这么简单.

Zhihu-User XJDiTU, 28.12.2022

Die zweithäufigste Kategorie „Beziehungen zwischen China und den USA“ enthält durchaus auch schärfere Töne:

„Es ist absolut eine protektionistische Politik, was sollen da Sensibilitäten? Warum sich nicht einfach auf diesen Welt-,Krieg‘ einlassen, warum nicht hart kämpfen und siegen? Unser Heimatland ist so groß, ist es nicht wert, dafür einen Krieg zu führen?“

[…] 就是保护主义政策导向,[…]有什么敏感的呢,[…]拿参与到世界的“战争”中去,为什么不能争强好胜。家国那么大, 不值得一战吗?

Xiaobaijianghu, 28.12.2022

Nüchterne und ironische Kommentare bezüglich einer Entkopplung von den USA überwiegen jedoch:

„Müssen die USA dann auch ein VPN benutzen, um chinesische Software herunterzuladen?“

所以美国也要用上VPN去翻墙下载中国的软件了嘛?

Jienxiaowo, 19.09.2022

An dritthäufigster Stelle finden sich Kommentare, in denen Zhihu-Nutzer:innen das Vorgehen der USA durch den wirtschaftlichen Wettbewerb zwischen TikTok und der US-Konkurrenz begründet sehen:

„Diese [US-]Unternehmen sind nicht nur deshalb unzufrieden mit TikTok, weil die Muttergesellschaft aus China stammt, sondern auch, weil TikTok ihnen die Follower-Zahlen und Werbeeinnahmen wegnimmt.“

这些公司不满意Tik Tok,不仅仅是因为Tik Tok的母公司是中国公司,更是因为Tik Tok

抢走了“原本属于它们”的粉丝数量、广告费用. Wangsuxikanshijie, 28.12.2022

Was bedeutet das?

Die Enthüllung des Missbrauchs der persönlichen Daten von US-Journalisten durch TikTok hat auch in der EU die Dringlichkeit erhöht, Datenmanagement, -speicherung und -transfer dieser App in Drittländer zu regulieren. Ob und wie Europa die Herausforderung meistert, wird die Umsetzung neuer EU-Verordnungen wie dem Digital Service Act zeigen.

Die chinesische Regierung verzichtet bislang darauf, über die Staatsmedien nationalistisch gefärbte Kommentare zum Vorgehen der USA und Europas zu verbreiten. Dies könnte darauf hindeuten, dass Beijing die EU nicht direkt zum Ergreifen schärferer Maßnahmen provozieren möchte und auf einen Dialog zwischen TikTok-CEO Shou Zi Chew und der EU setzt. Anders als im Fall der USA scheint China die Hoffnung auf eine Kompromisslösung mit der EU nicht aufgegeben zu haben.

Dass Chinas IT-interessierte Netzbürger:innen das US-Vorgehen überwiegend nüchtern betrachten, deutet auf ein möglicherweise geringes Potential zur Mobilisierung nationalistischer Stimmungen im Bereich IT-Politik – und damit im weiteren Sinne im anhaltenden Tech-Konflikt mit den USA. Aus Sicht der EU und Deutschlands kann es als ermutigendes Signal verstanden werden, dass Chinas Internetnutzer durchaus in der Lage scheinen, sich eigene, von der Regierungssicht abweichende Urteile zu bilden. Ein Reputations- oder Vertrauensverlust der EU bei Chinas IT-Experten ist somit im Fall eines härteren Vorgehens gegen TikTok nicht unbedingt zu erwarten.

CHINAS ROLLE IN DER WELT

„Aufstieg des Ostens und Fall des Westens“? – Chinesische Expert:innen analysieren Risiken in den Beziehungen zur EU

Was ist passiert?

Die Beziehungen zwischen der EU und China befinden sich seit den wechselseitigen Sanktionen im Jahr 2021 in einem Dauertief. Auch vor dem Hintergrund anhaltender Spannungen mit Washington sucht die chinesische Regierung nun nach Möglichkeiten, die Beziehungen zu Europa durch diplomatisches Engagement zu verbessern.

So erklärte der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Wang Wenbin (汪文斌), am 18. Januar, China wolle die Beziehungen zu Europa vertiefen. Er sagte: „In der nächsten Phase ist China bereit, den Dialog und die Zusammenarbeit mit der europäischen Seite auf der Grundlage des gegenseitigen Respekts weiter zu stärken und gemeinsam neue Fortschritte in der umfassenden strategischen Partnerschaft zwischen China und Europa zu machen.“

In einem Interview mit der South China Morning Post Ende Dezember 2022 sagte Fu Cong (傅聪 ), Chinas neuer Botschafter bei der EU, zu seinen obersten Prioritäten gehörten „die Aufrechterhaltung und Wiederaufnahme von Kontakten auf allen Ebenen, die Stärkung der Zusammenarbeit bei globalen Themen wie dem Klimawandel und die Intensivierung des Austausches im kulturellen Bereich“.

Abbildung 4

Was sagen Chinas Expert:innen?

Wir wollten wissen, wie chinesische Top-Wissenschaftler:innen und Beratende den Stand der Beziehungen zwischen der Volksrepublik und der EU bewerten, insbesondere die Risiken und Konfliktpotentiale. Wir haben dazu 17 Veröffentlichungen von sieben der renommiertesten staatlichen chinesischen Einrichtungen zu EU-Forschung aus den Jahren 2021 und 2022 analysiert.1

Chinas Wissenschafter:innen identifizieren Risiken in drei Bereichen:

Strategische Verschiebung in der EU-Politik

Das Europäische Parlament sei in der China-Politik der EU-Mitgliedstaaten aktiver geworden, und sein Einfluss dürfe nicht unterschätzt werden, so lautet etwa die Einschätzung des Zentrums für chinesisch-europäische Beziehungen an der Fudan-Universität. Die EU habe in ihrem ersten „Bericht über die politischen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen der EU und Taiwan“ auch das „Ein-China-Prinzip“ in Frage gestellt. Sie gebe sich mittlerweile nicht mehr nur mit ihrem Vetorecht durch das Investitionsschutzabkommen zufrieden, sondern ergreife auch zunehmend Initiative, um die politische Agenda von Mitgliedstaaten gegenüber China mitzugestalten, so der Shanghaier Thinktank.

Geopolitische Spannungen

Die strategische Nähe zwischen China und Russland (中俄在战略上的接近) fungiere als Katalysator für die Veränderung der EU-Politik gegenüber China. Da die Situation in der Ukraine zu „unrealistischen europäischen Assoziationen“ führen könne, sei eine weitere Verhärtung der Haltungen zur Taiwan-Frage in der EU und ihren Mitgliedstaaten zu erwarten. Ein Infragestellen der chinesisch-europäischen politischen Beziehungen stelle ein reales Risiko dar.

Die Analysten sehen zudem die Indo-Pazifik-Strategie und die Initiative Global Gateway im direkten Wettbewerb mit chinesischen strategischen Bestrebungen. Die EU signalisiere hiermit eine Ausdehnung ihrer geopolitischen Ambitionen in bisher stark von China beeinflussten Regionen. Dies gilt insbesondere für den westlichen Balkan und die Länder aus Ost –und Südeuropa.

Wirtschaftliche Entkoppelung

Die Einführung des EU-Instruments zur Abwehr von wirtschaftlichem Zwang (anti-coercion instrument) und des Gesetzes über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten verstärke die Politisierung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, analysieren das Zentrum für strategische und sicherheitspolitische Studien und das Institut für internationale Beziehungen an der Tsinghua-Universität.

Im Bereich Wirtschaft und Handel schauen die Wissenschaftler:innen kritisch auf EU-Maßnahmen, die – wenn auch nicht direkt auf China abzielend – wirtschaftliche und handelspolitische Abhängigkeit von China verringern sollen. Die EU reduziere dadurch ihre Abhängigkeit vom chinesischen Markt, dessen Rohstoffen und Industrieketten. Handel und Wirtschaftsbeziehungen würden so als „Grundpfeiler“ (压舱石) der beiderseitigen Beziehungen immer mehr an Bedeutung verlieren.

Was bedeutet das?

Chinas führende Expert:innen zeichnen ein durchweg pessimistisches Bild der Beziehungen zur EU. Die Bemühungen der chinesischen Zentralregierung um eine Verbesserung des Verhältnisses überraschen daher nicht. Die Analysen zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Materie. Es finden sich allerdings keine abweichenden oder den allgemeinen Konsens hinterfragenden Betrachtungen, weshalb die Forschungsergebnisse durchaus Fehleinschätzungen enthalten und „politische Korrektheit“, also eine Übereinstimmung mit offiziellen chinesischen Regierungsstandpunkten, überwiegt.

Mit ihren ideologisch geprägten Interpretationen sehen die Expert:innen die EU in der primären, wenn nicht sogar alleinigen Verantwortung, an dem angespannten Verhältnis etwas zu ändern. Handlungsanweisungen für ihr eigenes Land sprechen sie in der Regel nicht aus bzw. diese werden zensiert, so wie die von Yan Xuetong (阎学通), Politikwissenschaftler an der Tsinghua-Universität im Juli 2022:

„Wir können entweder unsere Offenheit gegenüber Europa erhöhen, indem wir vor allem Europäern, Unternehmen und Organisationen die Möglichkeit geben, zu Kooperationszwecken nach China zu kommen. Oder wir versuchen, Konflikte mit der europäischen Öffentlichkeit in Menschenrechtsfragen zu verringern, indem wir Menschenrechtskonflikte auf die Ebene zwischen Regierungen beschränken und nicht auf die gesellschaftliche Ebene ausweiten.“

一是加大对欧开放,主要是允许欧洲人、企业、组织来中国进行合作,二是将人权冲突限于政府之间而不扩大到社会层面,减少与欧洲大众在人权问题上的冲突.

 

Endnoten

1 | Veröffentlichungen der folgenden sieben Institute haben wir für unsere Analyse herangezogen: Das Institut für Europastudien an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften (中国社会科学院欧洲研究所), das Zentrum für Studien über die Europäische Union, Universität für Internationale Studien Shanghai (上海外国 语大学欧盟研究中心), das Zentrum für chinesisch-europäische Beziehungen an der Fudan-Universität (复旦 大学中欧关系研究中心), das Zentrum für strategische und sicherheitspolitische Studien und das Institut für internationale Beziehungen an der Tsinghua-Universität (清华大学战略与安全研究中心 und 清华大学国际关系研究院) sowie die Europaabteilung am China Institut für internationale Studien (中国国际问题研究院欧洲所).

 

Author(s)