Passengers travel from Nanjing Railway Station in Nanjing, Jiangsu province, China, Feb 14, 2024.
MERICS Briefs
MERICS China Essentials
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Wirtschaftliche Unsicherheit + Xinjiang + Wang Yi in Europa

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Fehlende Jobs, Wirtschaft unter Druck: Chinas schwieriges Jahr des Drachens

Fast 200 Millionen Menschen haben sich vergangenes Wochenende auf den Weg gemacht, um ihre Familien zum chinesischen Neujahrsfest zu besuchen. Viele von ihnen haben angesichts der unsicheren wirtschaftlichen Lage derzeit wenig Anlass, optimistisch auf das gerade begonnene „Jahr des Drachen“ zu blicken. Chinas Aktienmärkte verzeichneten seit 2021 rund sieben Billionen USD an Wertverlusten. Ein Großteil der letzten tausend Milliarden wurde in den vergangenen Wochen vernichtet, weil unklar ist, wie Beijing den hochverschuldeten Immobilienriesen Evergrande nach der Liquidations-Anordnung eines Hongkonger Gerichts abwickeln wird.

Zwei Gruppen sind besonders von der wirtschaftlichen Unsicherheit betroffen: Wanderarbeiter, die nach dem Frühlingsfest neue Arbeitsverträge oder Tarifverträge für das nächste Jahr benötigen und junge Erwachsene, die angesichts der anhaltenden Jugendarbeitslosigkeit Schwierigkeiten haben, im Berufsleben Fuß zu fassen. Die Behörden sagten für die insgesamt 40-tägige Ferienzeit eine – den Konsum ankurbelnde – Rekordzahl von neun Milliarden Reisen voraus. Die Erfahrungen dieser beiden Gruppen zu Beginn des Jahres könnten sich jedoch als die verlässlicheren Indikatoren für die Situation der chinesischen Wirtschaft erweisen.

Wie jedes Jahr werden die Wanderarbeiter nach der Rückkehr an ihre Arbeitsplätze ihre Löhne für das kommende Jahr aushandeln oder, in der Hoffnung auf eine bessere Bezahlung, eine neue Stelle suchen. Nachdem Chinas Exporte 2023 um rund fünf Prozent zurückgegangen waren und die Verbraucherpreise aufgrund der schwachen Binnennachfrage nur um 0,2 Prozent zulegten, stellt sich die Frage, wie viele Arbeitskräfte die Unternehmen tatsächlich einstellen und zu welchen Gehältern. Die Durchschnittslöhne waren Ende 2023 bereits um 1,3 Prozent niedriger als im Jahr davor.

Viele junge Menschen erwarten bei den Familientreffen die üblichen bohrenden Fragen zu Karriere, Beziehungen und Familienplänen. Chinesische Therapeuten haben dafür den Begriff „Neujahrsangst“ geprägt. Apps wie Tencents „Cece“ erfreuen sich großer Beliebtheit, damit lassen sich unangenehme Gespräche mit Verwandten trainieren. Die Jugendarbeitslosigkeit ist zuletzt offiziell um sechs Punkte auf 14,9 Prozent gesunken, allerdings nur, weil die Behörden die Berechnungsweise geändert haben. In wenigen Monaten wird ein weiterer Rekordjahrgang von 11,9 Millionen Hochschulabsolventen auf den Arbeitsmarkt drängen. 

MERICS-Analyse: „Wenn Fabriken die Produktion nach den Neujahrsferien zurückfahren oder einstellen, könnten nicht nur Arbeiter betroffen sein, sondern auch Unternehmen, die auf Zulieferer angewiesen sind“, sagt Jacob Gunter, Lead Analyst bei MERICS. „Zugleich sind viele junge Erwachsene auf das Vermögen ihrer Familie angewiesen, das in vielen Fällen in Immobilien mit schwachen Bewertungen angelegt wurde. Für Unternehmen, die Konsumgüter an eine wachsende Mittelschicht verkaufen wollen, verheißt all das nichts Gutes.“

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Medienberichte und Quellen:

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So viele Male wurde ein Beitrag auf der Weibo-Seite der US-Botschaft in China kommentiert, in dem es um die Rettung von Giraffen ging. Die meisten Nutzer thematisierten aber nicht den Tierschutz, sondern beklagten sich über den Zustand der chinesischen Wirtschaft. Wie viele den Social-Media-Beitrag tatsächlich zum Anlass nahmen, um sich über die Situation in ihrem Heimatland zu beschweren, ist nicht bekannt. Viele Kommentare dürften gelöscht worden sein, da öffentliche Kritik an Chinas Wirtschaft nicht im Interesse Beijings ist. (Quelle: Weibo)

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Niederländer kritisieren China wegen Cyber-Angriff

Die Fakten: Höchst selten haben Regierungen in der Europäischen Union bislang Beijing mit staatlich gesteuerten Hackerangriffen in Verbindung gebracht. Doch die niederländische Regierung hat in der vergangenen Woche öffentlich die chinesische Regierung für einen Cyberangriff auf ihr Verteidigungsministerium im Vorjahr verantwortlich gemacht. Sie wolle dazu beitragen, die „internationale Widerstandsfähigkeit" zu erhöhen, um einem laut niederländischen Geheimdiensten „größeren Trend der chinesischen politischen Spionage gegen die Niederlande und ihre Verbündeten" zu begegnen, begründete Verteidigungsministerin Kajsa Ollongren den Schritt. FBI-Direktor Christopher Wray hatte bereits Ende Januar gewarnt, dass China in Infrastrukturnetze eindringe, um Störaktionen vorzubereiten, die Schaden in der realen Welt anrichten

Der Blick nach vorn: Angesichts anhaltender Diskussionen über die Rolle chinesischer Anbieter in europäischen Infrastrukturen wird es immer wichtiger, China klar als Urheber von Hackerangriffen zu benennen und die existierenden Belege zu zeigen. Dem entschlossenen Vorgehen der Niederlande waren Angriffe chinesischer Akteure unter anderem auf den Halbleiterhersteller NXP vorangegangen. Die Niederlande, Heimat des Halbleiterausrüsters ASML, waren von den USA unter Druck gesetzt worden, Maschinenexporte nach China einzuschränken. Andere europäische Regierungen halten sich bislang zurück, die chinesische Regierung wegen Cyberangriffen zu beschuldigen, womöglich aus Furcht um eine Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen. Kompliziert wird die Situation auch dadurch, dass ein internationaler Standard für die Zuordnung von Cyberangriffen nicht existiert. 

MERICS-Analyse: „Da immer mehr Geräte miteinander verbunden sind und Informationen digitalisiert werden, werden auch die potenziellen Schäden von Cyberangriffen größer", sagt MERICS-Expertin Antonia Hmaidi. „Brüssel und einige Mitgliedstaaten haben erkannt, wie wichtig es ist, Bedrohungen durch chinesische Akteure direkt anzugehen. Doch während sich die Nachrichtendienste in ihrer Einschätzung einig sind, agiert die Politik in einigen Ländern zurückhaltend. Europa muss seinen Fokus von den möglichen kurzfristigen Auswirkungen einer Auseinandersetzung mit Beijing auf langfristige Risiken und Abhängigkeiten verlagern.”  

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Medienberichte und Quellen:

Nach Rückzug von BASF aus Xinjiang wächst Druck auf andere Unternehmen

Die Fakten: Nach Medienberichten über mögliche Menschenrechtsverletzungen will sich der Chemiekonzern BASF aus zwei Joint Ventures in Xinjiang zurückziehen. Mitarbeiter des BASF-Partners Markor hatten Berichen von „ZDF“ und „Spiegel“ an einer Kampagne teilgenommen, bei der Kader der ethnischen Mehrheit der Han-Chinesen und regierungstreue Mitarbeiter für einige Tage oder Wochen in den Häusern von Uiguren untergebracht werden und über diese berichten müssen. Als Hauptgrund für den Ausstieg, den BASF bei den chinesischen Behörden ansuchen wird, nannte das Unternehmen die nötige Verringerung des „CO2-Fußabdrucks“. China ist ein wichtiger Markt für den deutschen Chemieriesen, der sich 2022 zu einer Investition im Land in Höhe von zehn Milliarden Euro verpflichtete. Neue Erkenntnisse des Forschers Adrian Zenz deuten auch auf den Einsatz von Zwangsarbeitern in einem Subunternehmen des Joint Ventures von VW und seinem Partner SAIC hin.

Der Blick nach vorn: BASF und Volkswagen haben beide in der Vergangenheit erklärt, interne und externe Überprüfungen hätten keine Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen in Zusammenhang mit den eigenen Standorten oder Joint Ventures ergeben. Das Engagement in der Region stehe nicht im Widerspruch zu ethischen Anforderungen an Lieferketten. Die neuesten Berichte zeigen, dass Menschenrechtsrisken nicht auf Zwangsarbeit beschränkt sind, sondern auch den Transfer von Arbeitern in andere Landesteile oder invasive Überwachungsmethoden umfassen können. Der Druck auf multinationale Unternehmen, sich ebenfalls aus der Region zurückzuziehen, dürfte weiter steigen.

MERICS-Analyse: „Die Repressionen in Xinjiang verschwinden nicht, sondern nehmen neue Formen an, die den Alltag prägen – sogar im Rahmen von zunächst einmal positiv klingenden Kampagnen zur Armutsbekämpfung oder zur Verantwortung von Unternehmen“, sagt Katja Drinhausen, Leiterin des MERICS-Programms Innenpolitik und Gesellschaft. "Unternehmen müssen ihre Prüfverfahren breiter aufstellen und auch die Aktivitäten ihrer lokalen Partner berücksichtigen. Eine schwere Aufgabe, zumal Beijing immer neue Hürden errichtet, die unabhängige externe Prüfungen erschweren.“

Medienberichte und Quellen:

Europas Aufregung über Trumps NATO-Äußerungen passt zu Chinas US-Kritik

Die Fakten: US-Präsidentschaftsanwärter Donald Trump hat mit der Androhung, andere NATO-Mitglieder im Falle eines russischen Angriffs nicht zwangsläufig zu unterstützen, die Erzählung Beijings genährt, nach der die USA für Europa kein verlässlicher Partner mehr sind. In einem Kommentar stellte die parteistaatliche Boulevardzeitung „Global Times“ die Zukunft des westlichen Bündnisses offen in Frage und empfahl Europa, sich von der US-geführten NATO loszusagen und „Frieden mit Russland zu schließen". Die Debatte könnte auch die am Wochenende beginnende Münchner Sicherheitskonferenz beschäftigen, bei der Chinas Außenminister Wang Yi sowie ranghohe Außen- und Verteidigungspolitiker von beiden Seiten des Atlantiks erwartet werden. 

Der Blick nach vorn: Nach München wird Wang voraussichtlich nach Paris und Madrid reisen. Er dürfte bekräftigen, dass Europa sich besser China zuwenden sollte, anstatt den USA zu folgen, weil Washington kein verlässlicher Partner sei. Die Schlüsselfrage ist nicht, ob, sondern wie stark Wang dieses Mantra betonen wird. Denn auch China muss abwägen zwischen den widersprüchlichen strategischen Zielen, die Beziehungen mit Europa zu verbessern und Russland zur Seite zu stehen – im Hinblick auf den Ukraine-Krieg und die gemeinsame Opposition gegen eine westlich dominierte internationale Ordnung. Vor wenigen Tagen erst bekräftigten Xi Jinping und Wladimir Putin in einem Telefonat ihren Willen zu einer engeren strategischen Koordination.

MERICS-Analyse: „Das jüngste Telefonat zwischen Putin und Xi erinnert daran, dass Chinas Vorstellungen von einer 'gerechteren, multipolaren Welt' eher mit denen Russlands als mit denen Europas übereinstimmen", sagt Abigaël Vasselier, Leiterin Politik und europäische Angelegenheiten bei MERICS. „Die Münchner Sicherheitskonferenz ist für China Gelegenheit, nicht nur in bilateralen Treffen mit Staats- und Regierungschefs aus Europa und den USA Botschaften über seine globalen Ambitionen zu senden. Das diesjährige Treffen wird definitiv etwas verraten über Chinas aktuelle Ansichten zur Sicherheit Europas und die Zukunft der transatlantischen Partnerschaft."

Medienberichte und Quellen:

MERICS CHINA DIGEST

Shenzhen lockert Einschränkungen für Wanderarbeiter auf Wohnungsmarkt (YiCai Global)

Wanderarbeiter mit und ohne Haushaltsregistrierung (Hukou) können nun schneller Wohnungen kaufen. Damit soll auch potenzielle Kaufkraft auf dem angeschlagenen Immobilienmarkt freigesetzt werden. (24/02/08)

Zwei chinesische Fischer sterben nach Verfolgungsjagd mit taiwanischer Küstenwache (BBC)

„Wir bedauern zutiefst, dass die chinesische Besatzung sich geweigert hat, mit unseren Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten, und dass es zu diesem unglücklichen Vorfall gekommen ist,“ erklärte Taiwans Rat für Festlandsangelegenheiten. Beijing verurteilte den Vorfall auf das Schärfste und sagte, er verletze „die Gefühle der Landsleute auf beiden Seiten der Taiwanstraße.“ (24/02/15)

Überschuss von 1,9 Millionen Lehrkräften bis 2035 durch sinkende Geburtenrate (SCMP)

Die Geburtenzahlen in China gehen seit 2017 zurück, was bis 2035 in einem geschätzten Überschuss von 1,5 Millionen Grundschul- und 370.000 Mittelschullehrkräften resultieren wird. Zum ersten Mal seit fast zwei Jahrzehnten sank 2021 die Zahl der Kindergartenkinder. (24/02/13)

Leiter der chinesischen Wertpapieraufsichtsbehörde entlassen (Economist)

Nach wochenlanger Unsicherheit an den Aktienmärkten wurde Yi Huiman, der Leiter der chinesischen Wertpapieraufsichtsbehörde (CSRC), plötzlich entlassen und ersetzt. Am 5. Februar war der Index Shanghai Composite auf den tiefsten Stand seit fünf Jahren gefallen. (24/02/07)

„Chinesische Medien sehen politische Motive" hinter Messis Aussetzen bei Fußballspiel in Hongkong (Hong Kong Free Press)

Star-Fußballer Lionel Messi hat heftige Kritik chinesischer Staatsmedien geerntet, als er bei einem Freundschaftsspiel zwischen seinem Verein Inter Miami und Hongkong XI auf der Bank saß. Sein Verein teilte mit, er sei wegen einer Sehnenverletzung geschont worden, die parteistaatliche Zeitung „Global Times“ vermutete "politische Motive". (24/02/08)