Ciqikou ancient town flooded due to rainstorm in Chongqing
Interview
4 Minuten Lesedauer

Wang Weiluo zur Flut in China: „Hochwasser gibt es immer häufiger, und die Schäden werden immer größer“

Das verheerende Hochwasser in China kostete nach Regierungsangaben bis Ende Juli bereits 158 Menschen das Leben, 3,8 Millionen verloren ihr Zuhause. Die materiellen Schäden belaufen sich auf 144 Milliarden Yuan (17,5 Mrd. Euro). Der in Deutschland lebende Raumplaner Wang Weiluo erläutert im Interview die Besonderheiten und Herausforderungen des Hochwasserschutzes in China. 

China gegen ein zerstörerisches Hochwasser – manche Medien sprechen sogar von einem „Jahrhunderthochwasser“. Wie kam es dazu? 

Bislang fehlen umfassende, transparente und nachvollzielbare Informationen über das Hochwasser 2020 und die dadurch entstandenen Schäden. Die meisten Berichte kommen über die sozialen Medien. Die Lage ist ernst, aber es ist keinesfalls ein Jahrhunderthochwasser. Zum Beispiel erreichte der Pegel in Wuhan am 12. Juli den Stand von 28,77 Metern über Normal-Null, und es ist somit niedriger als 1954 mit 29,73 Metern, 1998 mit 29,43 Metern und 1999 mit 28,89 Metern. Aber der wirtschaftliche Schaden ist 2020 viel größer als in den Jahren davor.  

Das Problem ist, dass China sich seit 70 Jahren bei Wassermanagement und Hochwasserschutzmaßnahmen auf den Dammbau konzentriert. 1949 gab es in China etwa zwanzig Dämme und Stauseen. Heute gibt es davon 98.000, etwa 52.000 allein in der Yangtse-Region. Nachdem der Nationale Volkskongress 1992 den Dreischluchten-Damm genehmigte, hat sich die Erzeugung von Wasserkraft im Namen des Hochwasserschutzes rapide entwickelt. Immer mehr Feuchtgebiete, Flussauen und Seen wurden als Baugebiete für Siedlungen und Industrie erschlossen. Flüsse wurden verengt und Seeflächen verkleinert und damit der Platz für Wasser immer knapper. Es herrschte der Glaube, dass Dämme und Stauseen vor Hochwasser schützen würden. Deutsche Technik für Hochwasserschutz – wie etwa die aus Köln bekannten mobilen Metallwände – verbreiteten sich schnell in China. Nicht aber neue Ideen wie „Leben mit Hochwasser“, „Renaturalisierung der Flüsse“, oder „Wasser mehr Raum geben“. 

Es gibt teilweise sehr düstere Warnungen über den Verlauf der Flut. Was könnte schlimmstenfalls passieren – und was bestenfalls? 

Im Zuge der Wirtschaftsreformen wurden auch die Nutzungsrechte von Dämmen und Stauseen privatisiert, um den Staat zu entlasten. Bei einem Hochwasser gibt es nun einen Konflikt zwischen den wirtschaftlichen Interessen der Nutzungsberechtigten und den gemeinschaftlichen Interessen der Öffentlichkeit. Für die wirtschaftliche Nutzung – Stromerzeugung, Wasserversorgung und Bewässerung – braucht man viel Wasser im Stausee. Bei einem Hochwasser erfordern aber die gemeinschaftlichen Interessen, dass der Stausee geleert wird. Angesichts der schlechten Bauqualität vieler Dämme – auch des Dreischluchtendammes – haben die Zentralregierung und viele lokale Regierungen Angst vor Dammbrüchen.  

So haben sich folgende Prioritäten gebildet: erstens Dammsicherheit; zweitens die wirtschaftliche Nutzung, die unmittelbar mit den Interessen der Nutzungsberechtigten verbunden ist; erst an dritter Stelle steht der Hochwasserschutz. In der Praxis geht das häufig so: Die Berechtigten speichern so viel Wasser wie möglich, auch im Namen des Hochwasserschutzes. Dann stellen die Behörden oder die Nutzer fest, dass so viel Wasser den Damm gefährdet. Die Behörden geben dann – hoffentlich noch rechtzeitig – den Befehl, Wasser abzulassen. Im August 1963 brachen mehr als 300 Dämme in der Provinz Hebei – die Schäden blieben ein Staatsgeheimnis. 1975 brachen 62 Dämme in der Provinz Henan und es gab 240.000 Todesopfer. 

Noch mal zu den Auslösern: Wird die chinesische Regierung mit ihrem Kurs in der Lage sein, die Ursachen der Flut sinnvoll zu bekämpfen? 

Die chinesische Regierung möchte Hochwasser mit einem neuen System kontrollieren. Es basiert auf der persönlichen Verantwortlichkeit: Jeder Fluss hat einen Flusschef oder jedes Flussstück einen Stückflusschef – das gleiche gilt für Seen. Zudem gibt es für jeden Damm und Stausee drei Verantwortliche: den stellvertretenden Leiter der zuständigen Regierung, den Abteilungsleiter Wassermanagement der Regierung und den Nutzungsberechtigten. Diese drei Namen werden im Internet bekannt gemacht. Präsident Xi Jinping betonte in letzter Zeit häufig, diese Zuständigen seien persönlich verantwortlich und müssten an vorderster Front mithelfen. Es gibt geheime Kontrollen, die prüfen, ob Xis Befehl befolgt wird. Während der Coronavirus-Epidemie zeigten diese Prüfungsteams Wirkung, und Xi wünscht sich ähnliche Erfolge bei der Hochwasser-Bekämpfung.  

Als die Kommunistische Partei vor 70 Jahren an die Macht kam, erklärte Mao den Kampf gegen den Yangtse und andere Flüsse, um deren Wasser zu beherrschen. Das technische Mittel war der von der Sowjetunion eingeführte Dammbau, und die Investitionen waren immens. Aber Hochwasser gibt es immer häufiger, und die Schäden werden immer größer. Da über Wassermanagement nicht diskutiert werden darf, ist nicht zu erwarten, dass die chinesische Regierung ihren Kurs ändern wird. 

Das Interview mit Wang Weiluo führte Gerrit Wiesmann

Dieses Interview erschien in unserem Newsletter "MERICS China Briefing" vom 13. August 2020.