Workers adjust the curtain near the symbol of the National People's Congress (NPC) ahead of the closing session of the NPC at the Great Hall of the People in Beijing, Monday, March 11, 2024.
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Chinas Nationaler Volkskongress 2024

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Nationaler Volkskongress: Priorität auf Technologie-Fortschritt, wenig konkrete Lösungsvorschläge für aktuelle Probleme

Nationaler Volkskongress: Priorität auf Technologie-Fortschritt, wenig konkrete Lösungsvorschläge für aktuelle ProblemeDer Nationale Volkskongresses (NVK) spiegelte einmal mehr die Überzeugung wider, dass die Kommunistische Partei Chinas (KPC) am besten weiß, was das Land braucht. Chinas Führung legte Beobachtern im In- und Ausland dabei nicht genau dar, wie sie ihre langfristigen strategischen Ambitionen und die Bewältigung der aktuellen wirtschaftlichen Probleme unter einen Hut bringen will. 

Chinas oberstes Gesetzgebungsorgan sendete ein klares Signal, dass der wirtschaftliche Aufschwung im Vordergrund steht und formulierte für dieses Jahr ein ehrgeiziges Wachstumsziel von fünf Prozent. Damit hat die Führung einen Berg von Hausaufgaben zu bewältigen: die Regierung muss sich mit einem Einbruch im Immobilien- und Aktienmarkt, stagnierenden Einkommen, Arbeitslosigkeit, Lücken im Sozial- und Rentensystem und teils gravierender Verschuldung von Lokalregierungen auseinandersetzen. Ein Jahr nach dem Ende der Null-Covid-Politik ist die Wirtschaft des Landes immer angeschlagen und das Vertrauen der Unternehmen und Verbraucher schwach.

In seinem Arbeitsbericht an die Delegierten versprach Ministerpräsident Li Qiang, auf die Erwartungen der Bürger und Unternehmen einzugehen. Eine genauere Lektüre des Plans für 2024 und darüber hinaus lässt jedoch anders gelagerte Prioritäten erkennen: „Hochwertiges Wachstum" und „neue Produktivkräfte" sind die aktuellen Schlagworte (siehe Tabelle). Lis Rede legte den Schwerpunkt auf das Potenzial von Technologie als wichtigste Antriebskraft für das Wachstum. Seine Versprechen, Arbeitsplätze zu schaffen, den Lebensunterhalt der Bürger zu sichern, die Beschränkungen für die Binnenmigration zu lockern und die soziale Grundversorgung zu gewährleisten, erscheinen dagegen zweitrangig. Diese Ziele werden in einem Arbeitsmarkt, der von zunehmender Technologisierung geprägt ist, schwer zu erreichen sein und zusätzliche Mittel erfordern.

Trotz der Lippenbekenntnisse zu Reformen und Öffnung verdeutlichten rechtliche Veränderungen den Fokus auf die zentrale Steuerung durch die Partei und die abnehmende Reaktionsbereitschaft. Die Überarbeitung des Organisationsgesetzes des Staatsrats durch den NVK stärkte die Macht der Partei bei der Politikgestaltung. Und mit der Abschaffung der jährlichen Medienkonferenz am Ende des NVK setzte die chinesische Regierung den jüngsten Trend fort, dass Regierungsinformationen aus der Öffentlichkeit verschwinden und neue rechtliche Hindernisse für die Informationsbeschaffung errichtet werden, wie zum Beispiel das neu überarbeitete Gesetz über Staatsgeheimnisse.

MERICS-Analyse: „Die Abschaffung der Pressekonferenz spricht Bände. Beijing hat eine 30-jährige Tradition beendet, mit der sie einst vor allem gegenüber einem ausländischen Publikum Offenheit und Transparenz signalisieren wollte," sagt Katja Drinhausen, Leiterin des MERICS-Programms Innenpolitik und Gesellschaft.

Metrix

26,5 %

Das ist der Anteil der Frauen unter den 2977 Delegierten des 14. NVK. Der Frauenanteil ist in den letzten Legislaturperioden langsam, aber stetig gestiegen, so dass der NVK in die Nähe der auch nur 29,2 Prozent des US-Repräsentantenhauses gerückt ist. Zugleich ging jedoch der Frauenanteil in den obersten Gremien von Partei und Staat zurück: derzeit sind keine Frauen im Politbüro der KPC vertreten, und es steht nur eine einzige Frau an der Spitze eines Ministeriums. Obwohl Partei- und Staatschef Xi Jinping das Bekenntnis der Volksrepublik zur Gleichstellung der Geschlechter betont, rief er vor einigen Monaten Frauen dazu auf, sich auf Familie und Kindererziehung zu konzentrieren und so zur Entwicklung Chinas beizutragen. (Quelle: NPC Observer)

THEMEN

Beijing konzentriert sich auf geopolitische und finanzielle Risiken anstelle von Entlastungen für die Bevölkerung

Auf dem Nationalen Volkskongress hat Beijing deutlich gemacht, dass es an seinem wirtschaftspolitischen Kurs festhält. Der Parteistaat erkennt die aktuellen wirtschaftlichen Probleme zwar an, wird aber nicht von seiner Strategie abrücken und Entlastungen für die Bevölkerung priorisieren. Im wirtschaftspolitischen Programm der diesjährigen Tagung werden zahlreiche Ziele und Ansätze vom letzten Jahr wiederholt und zum Teil mit neuen Begriffen versehen (siehe Grafik). Das Wachstumsziel wurde erneut mit „rund fünf Prozent“ beziffert, mindestens zwölf Millionen neue Arbeitsplätze sollen entstehen und die Arbeitslosenquote 5,5 Prozent nicht überschreiten. Beijing muss eine Vielzahl von Prioritäten miteinander in Einklang bringen: die Förderung technologischer Fortschritte und Innovationen, die Modernisierung der Industrie, das Erreichen umweltpolitischer Ziele, den Schuldenabbau auf lokaler Ebene, die Stabilisierung der Immobilienpreise bei einer gleichzeitigen Abkühlung des Immobilienmarktes und die Ankurbelung des Konsums.

Diese Ziele stehen teilweise miteinander in Konkurrenz, was für chinesische Beamte eine Herausforderung ist. Sie müssen Schulden abbauen und gleichzeitig sowohl die Angebotsseite (Produktion) als auch die Nachfrageseite (Konsum) stützen, um nur ein Beispiel zu nennen. Dabei werden Abstriche gemacht werden – und Xis Worte und Taten im letzten Jahr deuten darauf hin, dass innenpolitische Risiken wie Schulden und die Immobilienblase sowie geopolitische Risiken wie die Beschränkung von Technologieexporten und die militärische Modernisierung Beijings oberste Prioritäten bleiben werden. Sozioökonomische Belastungen werden dafür in Kauf genommen, wie auch der Nationale Volkskongress gezeigt hat. Darauf wurden keine strukturellen Reformen des Rentensystems und Gesundheitswesens oder des Haushaltsregistrierungssystems beschlossen. Auch das Rentenalter wurde nicht angehoben. 

MERICS-Analyse: „Es ist bemerkenswert, dass Beijings angesichts der enormen Belastungen in Chinas Wirtschaft am stetigen Wachstum festhält", sagt Jacob Gunter, Lead Analyst bei MERICS. „Es zeigt, dass der Parteistaat nicht wie in der Vergangenheit auf die wirtschaftlichen Erwartungen und Bedürfnisse der Mittelschicht eingeht, sondern Disziplin und Loyalität gegenüber Xis strategischen Zielen priorisiert.“

Medienberichte und Quellen:

Zur Finanzierung geopolitischer Ambitionen lässt China viel Geld fließen

Der Nationale Volkskongress hat gezeigt, die chinesische Führung sieht trotz der schwierigen internationalen Lage keinen Grund, von ihrem selbstbewussten außenpolitischen Kurs abzuweichen. Steigende Mittel werden trotz anderer dringender wirtschaftlicher und sozialer Herausforderungen für die Verwirklichung von Chinas globalen Ambitionen verwendet. 2024 sollen 1,67 Billionen CNY (circa 210 Mrd. EUR) für Verteidigung und 60,78 Mrd. CNY für diplomatische Aktivitäten ausgegeben werden – ein Anstieg von 7,2 bzw. 6,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Diese Ausgaben ziehen Ressourcen aus anderen Bereichen, vom Gesundheitswesen und der sozialen Sicherheit bis hin zur Bewältigung der enormen Schulden der Provinzregierungen.

Im Arbeitsbericht der Regierung an den NVK werden eine „gleichberechtigte und geordnete multipolare Welt“ und eine Reform der globalen Ordnung gefordert. Diese klare Darstellung von Chinas weitreichenden außenpolitischen Zielen enthält auch wenig subtile Verweise auf die USA (und ihre Partner) und auf „hegemoniale, anmaßende und tyrannische Handlungen“. Es ist klar, welches Land Chinas Führung als ihren Hauptgegner auf der internationalen Bühne sieht. Die Realisierung des „100-Jahr-Ziels der Volksbefreiungsarmee“ (VBA) bis zu deren Gründungsjubiläum 2027 wurde als Schlüssel zur Verwirklichung von Chinas globalen Zielen bezeichnet. Dies bezieht sich auf die vollständige Modernisierung aller Bereiche, von der Ausrüstung und Ausbildung bis hin zur Strategie und Einsatzbereitschaft.

MERICS-Analyse: „Auch wenn Beijing zunehmend Prioritäten setzen muss bei seinen Ausgaben, macht es bei seinem Militärbudget keine finanziellen Abstriche", sagt MERICS-Expertin Helena Legarda. „Das zeigt, wie wichtig die Außenpolitik und geopolitische Ziele für Xi Jinpings langfristige Pläne sind.“

Medienberichte und Quellen:

Beijing setzt bei Wachstumsstrategie auf KI und Digitalisierung der Industrie

Der auf dem NVK vorgestellte Arbeitsbericht der Regierung hebt die wichtige Rolle hervor, die China Technologien wie Künstlicher Intelligenz (KI) zuschreibt, um Wachstum anzukurbeln. Der oberste Punkt auf der Liste der wichtigsten Aufgaben für 2024 bündelt die Ziele der Modernisierung der Industrie, Entwicklung der Digitalwirtschaft und Förderung aufstrebender Branchen wie Elektromobilität. Beijing misst der Integration von Technologie in bestehende Industrien eine große Bedeutung bei. Selbst wenn China bei strategisch bedeutsamen Technologien wie Halbleitern immer noch hinterherhinkt, könnten europäische Unternehmen in der intelligenten Fertigung und anderen Bereichen mehr Konkurrenz bekommen.

Im Arbeitsbericht wurde auch die Initiative "Künstliche Intelligenz Plus" vorgestellt, die KI-Anwendungen in von Beijing geförderten Schlüsselsektoren vorantreiben soll. In der verarbeitenden Industrie sollen Fabriken digitalisiert und mehr Roboter eingesetzt werden. Im Gesundheitswesen könnten große Datenmengen (Big Data) zur Verbesserung der Diagnostik beitragen oder generative KI in der Arzneimittelforschung eingesetzt werden. Der Fokus des Berichts auf die "Neuen Produktivkräfte" und die "Neuen Drei" (Elektrofahrzeuge, Batterien und Solarpaneele) zeigt auch, dass Chinas Führung der fortschrittlichen Fertigung gegenüber digitalen Konsumprodukten, wie zum Beispiel Spielen, Priorität einräumt. 

MERICS-Analyse: „Mit dem Fokus auf Hochtechnologie will Beijing die reale Wirtschaft ankurbeln“, sagt MERICS-Expertin Wendy Chang. „Auch wenn China bei sehr fortschrittlichen Technologien noch hinterherhinkt, wird der staatlich verordnete Fokus zum Beispiel auf industrielle KI oder die Automobilbranche europäische Firmen unter Druck setzen, die in diesen Bereichen derzeit noch Marktführerschaft haben.“

Mehr zum Thema: 

Medienberichte und Quellen:

MERICS China Digest

Artikel 23: Hongkongs neue Gesetze zur nationalen Sicherheit (Reuters) 

Die Behörden in Hongkong haben vor kurzem Gesetzesvorschläge zur nationalen Sicherheit vorgelegt, die aktualisierte und neue Gesetze zum Verbot von Hochverrat, Sabotage, Aufruhr, Diebstahl von Staatsgeheimnissen und Spionage enthalten sollen. Das als Artikel 23 bekannte Paket könnte innerhalb weniger Wochen verabschiedet werden. (08.03.24)

Klimapolitik auf dem NVK (Carbon Brief)

Die vom Nationalen Volkskongress festgelegten Klimaziele für 2024 sind begrenzt, wie Carbon Brief in einem Artikel über Chinas Pläne für Kohlekraft, saubere Energietechnologien und die Erfüllung der Klimaziele schreibt. (24/03/13)