Customers eat skewers at Muyang Village Grill in Zibo, East China's Shandong province
Kommentar
9 Minuten Lesedauer

Gemeinsam in der Garküche: Junge Menschen in China suchen digital – und offline – nach Gemeinschaft

Zusammenfassung:

  • Junge Menschen in China sehnen sich zunehmend nach gemeinschaftlichen Erfahrungen und zwischenmenschlichen Interaktionen jenseits der virtuellen Welt. Während die digitale Infrastruktur und der Onlinehandel weiter expandierten, verlieren physische Orte an Bedeutung – und mit allen Sinnen erlebbare Erfahrungen werden für Stadtbewohner immer seltener.
  • Zwei in dieser Analyse untersuchte Online-Gruppen haben unterschiedliche Ansätze gefunden, um mit der alle Lebensbereiche erfassenden Digitalisierung umzugehen. Die eine versucht, wieder mehr in der analogen Welt Fuß zu fassen, während die andere verstärkt digitale Technologien nutzt, um soziale Bedürfnisse zu stillen.
  • Diese Analyse fordert die verbreitete Darstellung heraus, wonach China eine Gesellschaft vor allem aus technologiebegeisterten und nach digitaler Bequemlichkeit strebenden Menschen sei. Sie zeigt, dass Chines:innen angesichts der fortgeschrittenen Digitalisierung ähnlichen Herausforderungen ausgesetzt sind wie anderswo auf der Welt.

China SpektrumDiese Analyse erschien in der Reihe China Spektrum, ein gemeinsames Projekt des China-Instituts der Universität Trier (CIUT) und des Mercator Institute for China Studies (MERICS). Das Projekt wird ermöglicht durch die Förderung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Mehr erfahren Sie hier.


Die Sehnsucht nach „Rauch und Feuer“ der Garküchen und einem analogen Leben

Das Wort Yanhuoqi (烟火气), das die sensorische Erfahrung von Feuer und Rauch in chinesischen Garküchen beschreibt und Assoziationen von gemeinschaftlichem Essen weckt, war 2023 einer der populärsten Begriffe im chinesischen Internet. Die Suche nach Geselligkeit in lebendigen Straßen ist zum Trend geworden: 4,8 Millionen Touristen strömten zum Beispiel im Mai 2023 in das nordchinesische Zibo, um dort die typischen gegrillten Spieße zu essen. Der Trend hält an: Nachtmärkte in Changsha, Frühstücksmärkte in Harbin und kleine Nachbarschaftsrestaurants, die im westchinesischen Tianshui Malatang-Suppe verkaufen, sind ebenfalls zu beliebten Tourismuszielen geworden.

Das alles ist Teil einer größeren gesellschaftlichen Sehnsucht nach greifbaren, sensorischen Erfahrungen und zwischenmenschlichen Begegnungen in einer Welt, in der Beziehungen und Austausch über Bildschirme, Algorithmen und digitale Plattformen vermittelt werden und in der kaum eine Straße ohne Ladestationen für die unverzichtbaren Smartphones auskommt. Die rasche Expansion digitaler Infrastruktur hatte zuletzt die Bedeutung physischer Begegnung für Chinas urbane Mittelschicht schwinden lassen. Technologieunternehmen beliefern Kunden, egal wo sie leben, inzwischen bis an die Haustür.

Die Transaktionen sind unpersönlicher geworden. Zwar weiß jeder heute genau, wann eine Essenslieferung eintreffen wird, aber nicht, wo sie herkommt oder von wem sie gebracht wird. Seit der Coronapandemie nutzen Menschen noch häufiger Lieferdienste und erledigen noch mehr online. Das „Yanhuoqi“ – die rauchige Atmosphäre in Garküchen und an anderen Orten, in denen man im übertragenen Sinne gemeinsam am Lagerfeuer isst oder sich begegnet, ist zu einem seltenen Vergnügen für Städter:innen geworden.

Der Soziologe Xiang Biao (项飙), der das Max Plack Institut für Sozialanthropologie in Deutschland leitet, sprach in einer chinesischen Talkshow 2019 von einer Erosion des öffentlichen Lebens in chinesischen Städten. Seine Beobachtungen trafen einen Nerv und gingen in den sozialen Medien viral. Bis heute wird er häufig im Zusammenhang mit „Überdigitalisierung“ zitiert, denn die von ihm beschriebene Entwicklung hält an.

Xiang beschrieb, wie junge Chinesinnen und Chinesen in den Städten ihre Wohnungen mit großen Fernsehern und Smart-Home-Geräten ausstatten. In sozialen Netzwerken beteiligen sie sich an globalen Diskussionen über Geopolitik und andere große Themen. Doch während sie online gut vernetzt sind, nehmen sie häufig ihre unmittelbare Umgebung nicht wahr. Xiang schließt daraus, dass „die Nachbarschaft verloren gegangen ist” und spricht sich für die „Bewegung der nächsten 500 Meter“ aus. Er hebt die Bedeutung von Begegnungen im Radius von 500 Metern des eigenen Hauses hervor, um dem Verschwinden nachbarschaftlichen Engagements und der Schwächung des sozialen Zusammenhalts entgegenzuwirken.

Douban-Nutzer diskutieren über Digitalisierung und Einsamkeit

Um zu verstehen, wie Chinas Netizens mit der Digitalisierung aller Lebensbereiche umgehen, haben wir uns zwei Gruppen auf der Internet-Plattform Douban1 genauer angesehen: Die „Gruppe gegen die Abhängigkeit von Technologie“ (反技术依赖小组) stellt mit Ideen über neue, weniger technologieabhängige Verhaltensweisen bestehende digitale Strukturen infrage. diskutiert, wie sich Abhängigkeiten von Technologien verringern lassen. In der Gruppe „Die 50 Herausforderungen von Alleinlebenden“ (独居的50个挑战) werden digitale Technologien genutzt, um soziale Strukturen im Netz zu reproduzieren, die das Leben allein leichter machen sollen.

Die Digital-Detoxer

Die Mitglieder der „Gruppe gegen die Abhängigkeit von Technologie“ sehen in Technologien zunehmend eine Form der sozialen Kontrolle, die Menschen zu „Dienern der Dinge“ mache. Die Menschen würden sich übermäßig von technischen Spielereien und digitalen Geräten abhängig machen, oft ohne sich dessen bewusst zu sein.

Die Mitglieder dieser Gruppe hoffen, voneinander zu lernen, wie Beziehungen in der analogen Welt gepflegt werden können. Sie entwickeln zusammen Überlebensstrategien für den Fall, das die Technologie einmal versagen sollte.

Ein zentrales Thema in der Gruppe, um das sich 33 Prozent der ausgewerteten Diskussionsbeiträge drehen, sind die täglichen Auswirkungen der übermäßigen Nutzung von Technologie. Eine Nutzerin namens wef355 beschreibt ihre Alltagserfahrungen und Bedenken: „Früher fragten die Leute nach dem Weg, wenn sie sich verlaufen hatten; wenn man jetzt jemanden um Hilfe bittet, werden die Absichten in Frage gestellt und gefragt: ‚Hast du keine Navigations-App?‘“ Weiter schreibt sie: „In vielen Restaurants gibt es keine Speisekarten mehr. Du scannst den QR-Code auf dem Tisch, der zu einer Bestellseite führt. Das ist, als würde man Essen über eine Liefer-App bestellen, es gibt keine menschliche Wärme.“

Die Mitglieder der Gruppe tauschen sich auch über unterschiedliche Strategien zur Verringerung ihrer Technologieabhängigkeit aus, ein Thema, das 46 Prozent der gesamten Beiträge ausmacht. So teilte der Nutzer Shadan seine Digital-Detox-Versuche: Er vermied die Nutzung von Smartphones und nutzte stattdessen ein einfaches Telefon, einen MP3-Player und eine Filmkamera. An der Universität verzichtete er darauf, sein Telefon mit in die Vorlesungen zu nehmen – mit dem Resultat, dass er sich mehr einbrachte und besser konzentrieren konnte.

Kritische Reflexionen über die Gesellschaft machen 21 Prozent der Diskussionsbeiträge in der Gruppe aus. Der Nutzer Xiaoshidedipingxian beschreibt die Oberflächlichkeit und Zeitverschwendung durch das Ansehen von Kurzvideos auf den einschlägigen Smartphone-Apps: „Man wischt mit dem Finger über den Bildschirm und fühlt sich wie ein Richter über die Welt, arrogant und oberflächlich. Man jagt Trends hinterher, entfesselt Emotionen und sammelt nutzloses Wissen. Trotz des beträchtlichen Zeitaufwands bleibt kaum etwas Nützliches hängen“.

Die Nutzer thematisieren auch die Wechselwirkung von Konsum und Digitalisierung. Maoshiwusuoharu drückt ihre Gedanken so aus: „Heute will jede App alles für uns tun und suggeriert, dass das Leben nur durch ständige Konnektivität funktioniert. Aber es geht nur ums Geld: Je mehr und schneller wir konsumieren, desto mehr verdienen die Anbieter. Am Ende frisst uns die Technologie wie sich im Nokia-Spiel Snake die Schlange schließlich selbst verschlingt.“

Zuflucht, Trost und digitale Verbindungen

Die Douban-Gruppe „Die 50 Herausforderungen von Alleinlebenden“ fördert eine Kultur des anonymen, aber intensiven Austauschs, indem sie das Teilen von Selfies und Kontaktdaten verbietet.

Beiträge über Einsamkeit machen 18 Prozent der Unterhaltungen in der Gruppe aus. Dies überrascht nicht, da die Zahl der Single-Haushalte in China stetig zunimmt. Laut offiziellen Statistiken lebten im Jahr 2000 2,52 Prozent der Chinesen in Einpersonenhaushalten, 2022 waren es 16,8 Prozent. Vor allem unverheiratete Frauen suchen Zuflucht im Internet.

In einem Beitrag beschrieb ein Mitglied namens Counting Sheep das Gefühl der Leere nach dem Besuch eines Konzerts: „Als ich nach Hause kam, fühlte ich eine Welle der Einsamkeit, da es niemanden gab, mit dem ich das interessante Erlebnis teilen konnte.“ Ein anderer Nutzer ermutigte zu einem Perspektivwechsel und bemerkte: „Sieh es anders [...] du teilst es doch gerade mit uns.“

Nicht alle Erfahrungen mit dem Alleinsein werden negativ bewertet. In vier Prozent der Beiträge teilen die Gruppenmitglieder begeistert schöne Momente, zum Beispiel Fotos von Reisen oder von gutem Essen. Eine Nutzerin namens Maybe teilte Bilder von ihrem allein verbrachten chinesischen Neujahrsfest und kommentierte: „Finde einen guten Film, bereite leckeres Essen zu - wie gemütlich! Man braucht sich nicht vor Verwandten zu verstecken oder ein Lächeln aufzusetzen, man kann sich einfach in seine kleine Ecke kuscheln und fröhlich feiern.“ Auf die Frage von Artisan, wie sie es geschafft habe, nicht nach Hause fahren zu müssen, antwortete ein anderes Mitglied: „Höre zuerst auf, dich auf deine Familie zu verlassen, dann gib sie auf und schließlich lebe frei allein.“

Praktische Tipps für das tägliche Leben und Diskussionen über Lebensstile dominieren 68 Prozent der Unterhaltungen, häufig geht es um Sicherheit und Gesundheit. In Diskussionen zu Themen wie „Sicherheitstipps für Alleinlebende“ und „Keine Angst, krank zu werden, auch wenn man allein lebt“ werden wertvolle Ratschläge geteilt.

In einer Konversation zum Thema „Allein leben im Altersheim“ berichtete die Nutzerin Heart like shining stars von ihrer Entscheidung, mit Anfang dreißig die Stadt zu verlassen und als Teilzeitkraft in einem Altersheim zu arbeiten. Unverheiratet und kinderlos freue sie sich auf eine ruhige Zukunft in der Gesellschaft älterer Menschen. Ihre Lebensplanung und Ratschläge inspirierten andere Mitglieder, sich ebenfalls auf Stellen in Altenheimen zu bewerben. Für eine Gruppe, deren Mitglieder gewöhnlicherweise im Internet Zuflucht und Ersatzbeziehungen suchen, bieten solche alternativen Lebensweisen eine Gelegenheit, ins analoge Leben zurückzukehren.

Was bedeutet das? Enttäuschte Jugend ist eine Herausforderung für die nationalen Ziele der Kommunistischen Partei Chinas

Die Diskussionen in diesen beiden Douban-Gruppen stellen die gängige Vorstellung von China als eine ausschließlich fortschrittliche digitale Gesellschaft in Frage, die von der Top-Down-Technologieentwicklung getrieben wird. Die Diskussionen zeigen, dass Chinesinnen und Chinesen aufgrund der Überdigitalisierung mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind wie Individuen weltweit: Sie müssen das enorme Potenzial der digitalen Technologie mit der Sehnsucht nach Authentizität und menschlicher Nähe in Einklang bringen.

Beide Gruppen und ihre Bewältigungsmechanismen - digitale Surrogation und digitaler Entzug - folgen früheren Trends im Online-Verhalten und Diskussionen unter chinesischen Jugendlichen: „flach liegen“ (tang ping 躺平; innerer Rückzug zu Hause) oder „weglaufen“ (run 润; das Land verlassen). Diese Trends sind vor allem als Reaktionen auf ein schwieriges Offline-Umfeld entstanden: eine hohe Arbeitsbelastung für die einen (9-9-6-System: sechs Tage in der Woche von neun bis neun), keine Jobperspektive für die anderen (die letzte offizielle bereinigte Arbeitslosenquote betrug 13 Prozent).

All diese Online-Diskussionen und Verhaltenstrends deuten jedoch darauf hin, dass Teile der chinesischen Jugend desillusioniert sind und ihre eigenen Wege der Sinnfindung suchen. Dies stellt die Kommunistische Partei Chinas auf mindestens zwei Ebenen vor Herausforderungen: Eine desinteressierte Jugend untergräbt den sozialen Zusammenhalt und lässt sich nicht so leicht mit von der Partei vorgegebenen Begriffen wie „nationale Verjüngung“ oder „Aufbau eines modernen sozialistischen Landes in jeder Hinsicht“ mobilisieren. Ausgelöst durch ein einigendes Ereignis, wie bei den „Weiße Papier“-Protesten im November 2022, könnten chinesische Jugendliche aber auch auf eigene Weise wieder auf die Straße gehen und eine aktivere Rolle bei der Gestaltung ihrer eigenen Zukunft fordern.

Endnoten

1 | Mit über 200 Millionen registrierten Nutzern und 150.000 aktiven Gruppen zu Themen wie Lifestyle, Literatur und Film bot Douban eine ideale Plattform für unsere Analyse. Douban wird hauptsächlich von gebildeten Städtern zwischen 18 und 35 Jahren genutzt und erlaubt im Vergleich zu Plattformen wie Weibo längere Beiträge, wodurch nuanciertere Diskussionen ermöglicht werden. Wir haben auf Douban nach den Begriffen yanhuoqi (烟火气) und zweidimensionale Welt ( 二次元) gefiltert, wobei sich letzterer auf einen Kreis introvertierter Personen bezieht, die online sehr aktiv sind und dort in die Welt von Anime, Manga und Videospielen eintauchen. Douban verfügt auch über die Funktion „Benutzer in dieser Gruppe besuchten auch“, um Gruppen auf Grundlage ähnlicher Interessen zu empfehlen, was es uns ermöglichte, die Suchergebnisse mithilfe der Schneeballmethode zu erweitern. Aus 32 Gruppen identifizierten wir zwei Gruppen, die den gewählten Kriterien entsprachen: mehr als 10.000 Mitglieder, in den letzten sieben Tagen aktiv, Diskussion von Bewältigungsstrategien und öffentlich zugänglich. Diese beiden Gruppen veranschaulichen gegensätzliche Bewältigungsstrategien als Reaktion auf die Erosion des analogen und öffentlichen Lebens. Anschließend haben wir eine Inhaltsanalyse aller in diesen beiden Gruppen als ausgewählt markierten (精选, „gefeaturten“) Beiträge vorgenommen.

Autor(en)
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Wutao Wen
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am China-Institut der Universität Trier
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