

Globalisierung am Wendepunkt: Chinesische Experten und Internetnutzer zum US-chinesischen Handelskonflikt
Diese Analyse erschien in der Reihe China Spektrum, ein gemeinsames Projekt des China-Instituts der Universität Trier (CIUT) und des Mercator Institute for China Studies (MERICS). Das Projekt wird ermöglicht durch die Förderung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Mehr erfahren Sie hier.
Zusammenfassung
- Im Handelskrieg zwischen China und den USA ist Beijing bisher standhaft geblieben und hat sich selbstbewusst gezeigt. Inländische Debatten spiegeln jedoch deutliche Sorgen über mögliche Auswirkungen des Konflikts wider. Internationale Beobachter:innen sollten die von Beijing betonte wirtschaftliche Stärke mit Skepsis betrachten.
- Chinesische Experten für internationale Beziehungen und Wirtschaftswissenschaftler diskutieren intensiv über den Handelskonflikt und seine Auswirkungen. Die meisten sind der Ansicht, dass sich das globale Handelssystem grundlegend verändern wird und dass der eskalierende Handelskonflikt eine Abkehr von Freihandel und Globalisierung in ihrer bisherigen Form bedeutet.
- Sie plädieren mit Blick auf Chinas Exportabhängigkeit dafür, seine Absatzmärkte zu diversifizieren und auszubauen. China müsse seine Handelsbeziehungen stärker auf den globalen Süden ausrichten, jedoch mit Umsicht, um keine weiteren Handelsbarrieren auszulösen.
- Gleichzeitig betonen die Experten die Notwendigkeit von Reformen, um Chinas langfristige wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit zu gewährleisten. Dazu gehören der Abbau von Überkapazitäten und die Ankurbelung des Binnenkonsums durch einen stabileren Arbeitsmarkt und höhere Einkommen.
- Internetnutzer:innen mokieren sich über die US-Politik, insbesondere die Bemühungen der Trump-Regierung, Fabrikarbeit in die USA zurückzuholen. Manche Kommentatoren erinnern an frühere Restriktionen der USA und des Westens gegenüber China und rufen zu „patriotischem Konsum“ auf. Die Online-Debatten spiegeln aber auch Ängste bezüglich des eigenen Arbeitsplatzes oder Lebensunterhalts wider.
China und die USA befinden sich in einem erbitterten Handelskonflikt. Seit Februar 2025 spitzte sich die Situation zu, mit beidseitigen Ankündigungen von Zöllen in schwindelerregender Höhe und einer Reihe von weiteren Maßnahmen (siehe Grafik). Hochrangige Gespräche im Mai, Juni und Juli in Genf, London und Stockholm brachten eine vorübergehende Schonfrist, mit ungewissem Bestand. Beide Seiten nahmen die Ausfuhr wichtiger Produkte wieder auf. Eine Reihe von Zöllen soll jedoch beibehalten werden, und Washington und Beijing werfen einander vor, gegen die Vereinbarungen zu verstoßen.
Inmitten der angespannten bilateralen Beziehungen ist Beijing standhaft geblieben und betont die eigene Stärke. „In Handelskriegen gibt es keine Gewinner“ postuliert die chinesische Regierung in einem Weißbuch und kritisiert die USA scharf als Rüpel, der seine Interessen durch Protektionismus und wirtschaftlichen Zwang durchsetzt. Chinas Führung und Vertreter verschiedener Ministerien nutzten die Gelegenheit, um das Land als Stabilitätsanker in der Weltwirtschaft zu präsentieren. Die Kernbotschaft: China ist offen für Dialog und Zusammenarbeit, aber auch bereit, sich zu verteidigen.
Experten zu neuer Handelsordnung und notwendigen Maßnahmen
Chinesische Expert:innen für internationale Beziehungen und Wirtschaftswissenschaften diskutieren rege über den Handelskonflikt und seine Auswirkungen. Häufig verwendete Begriffe in dem Kontext sind „Zollkrieg“ (关税战), „Handelskrieg“ (贸易争/贸易战) oder „Konflikt zwischen China und den USA“ (中美冲突). In zahlreichen Beiträgen von akademischen Institutionen, in Zeitschriften, auf Online-Plattformen und in den sozialen Medien erörtern sie die aktuellen geoökonomischen Dynamiken und mögliche politische Maßnahmen.1
Zölle beschleunigen einen Wandel in der globalen Handelsordnung
Die für diese Analyse herangezogenen chinesischen Experten sind sich weitgehend einig, dass der eskalierende Handelskonflikt tiefgreifende Folgen haben wird. Dabei gehen die Einschätzungen auseinander, ob die aktuelle US-Politik gleich das Ende der Freihandelsordnung bedeutet. Für viele ist es noch ein Ringen darum, wer die Regeln der neuen Handelsordnung bestimmen wird.
„Trump ist dafür bekannt, die Schwachen zu tyrannisieren und die Starken zu fürchten“, sagt Jin Canrong (金灿荣), Vizedekan der School of International Studies an der Renmin-Universität. Der US-Präsident werde sich nicht so leicht von seinem Kurs abbringen lassen, meint Jin. Der chinesischen Wirtschaft könnten deshalb schwierige Zeiten bevorstehen. Die Intensität der aktuellen Phase des Handelskriegs sei deutlich höher als in der ersten Trump-Administration und die Ära des Freihandels gehe zu Ende.
Zhang Chunlin (张春霖), ehemaliger Chefexperte für die Entwicklung des Privatsektors bei der Weltbank, meint: der Rückzug der USA aus der derzeitigen Handelsordnung werde zwar zu schwierigen Anpassungen führen, der Freihandel werde in einer multipolaren Weltwirtschaft aber fortbestehen. Er sieht zwei Risiken: erstens könnten die derzeitigen internationalen Handelsregeln durch US-Regeln ersetzt werden. Und zweitens könnten die amerikanischen Einfuhrbeschränkungen zu einem Überangebot an Waren auf dem Weltmarkt führen. Zum Schutz der eigenen Märkte könnten sich auch andere Länder zu Zöllen und Handelsbarrieren gezwungen sehen.
Strukturelle Gründe für die zunehmenden Spannungen werden nur selten direkt thematisiert. Sun Liping, ein emeritierter Tsinghua-Professor, erörtert Chinas Beitrag zu globalen Überkapazitäten. Er hält ein baldiges Ende des Zollkriegs für unwahrscheinlich. Sun betrachtet die aktuellen Entwicklungen im Kontext eines „großen Umbruchs“ (大拆解), mit dem eine Neuordnung der Arbeitsteilung zwischen den USA (Innovation), Japan und Deutschland (High-End-Produktion) und China (Low-End-Produktion) einhergeht – und damit das Ende der Globalisierung nach bisherigem Verständnis.
China sollte sich international bietende Chancen besser nutzen
Da technologischer Wettbewerb, nationale Sicherheitsbedenken und systemische Differenzen in den Beziehungen zwischen Beijing und Washington zunehmend Vorrang vor wirtschaftlichen Erwägungen haben, stellt sich China auf einen langen und heftigen Konflikt ein. Für die meisten Experten sind die Diversifizierung von Absatzmärkten und Auslandsinvestitionen entscheidend für die Durchsetzung chinesischer Interessen.
Lu Feng (卢锋), Professor und Direktor des China Macroeconomic Research Center an der Peking Universität, argumentiert, China sei während Trumps erster Amtszeit wirtschaftlich und technologisch unabhängiger geworden und sei besser auf den aktuellen Konflikt vorbereitet. Nun solle die Volksrepublik der von den USA vorangetriebenen Abkopplung entgegenwirken, indem sie stärker mit den BRICS-Mitgliedern, den Entwicklungsländern und, wo möglich, auch westlichen Staaten zusammenwirkt.
Su Qingyi (苏庆义), Forscher am Institut für Weltwirtschaft und Politik an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften (CASS), erachtet die Verringerung der Abhängigkeit vom US-Markt und die Vertiefung der Handelsbeziehungen mit den Ländern des globalen Südens als zentral. Er betont die Notwendigkeit landespezifischer Strategien und staatlicher Unterstützung für Unternehmen, die neue Märkte erschließen wollen.
Luo Zhiheng (罗志恒), Chefökonom und Präsident des Forschungsinstituts Yuekai Securities, und seine Mitautoren fordern in einem Beitrag, China solle beim Festlegen neuer Rahmenbedingungen für den Welthandel eine Führungsrolle übernehmen. Zum Beispiel indem es als Zeichen des guten Willens Importzölle senkt oder abschafft – außer für Einfuhren aus den USA. Außerdem fordern die Autoren die Diversifizierung von Exportmärkten. China solle dabei Disruptionen auf den Märkten seiner Handelspartner vermeiden, da diese sonst Gegenmaßnahmen ergreifen könnten. Stattdessen müsse China danach streben, die USA als weltweit größten Importeur abzulösen.
Der Handelskrieg zeigt notwendige innenpolitische Reformen auf
Chinesische Experten bekräftigen langjährige Forderungen nach wirtschaftspolitischen Reformen. Diese seien entscheidend, um die Auswirkungen des Handelskonflikts mit den USA abzumildern und Chinas langfristiges Wachstum zu sichern. Das Gros der Experten unterstützt die offizielle Politik der wirtschaftlichen und technologischen Unabhängigkeit und der Förderung einheimischer Innovation. Allerdings fordern viele, Überkapazitäten abzubauen und den Binnenkonsum anzukurbeln.
Der Handelskrieg könne ein starker Impuls sein für eine Neugewichtung wirtschaftspolitischer Prioritäten, sagt Wan Guanghua (万广华), Vizepräsident des Institute of Chinese Modernization and Development an der Nankai-Universität. Neben der Förderung von Innovationen gelte es, ineffiziente staatliche Investitionen zu reduzieren, insbesondere in Branchen mit Überkapazitäten. Zur Ankurbelung des Konsums brauche es höhere Haushaltseinkommen, Steuerreformen, finanzielle Zuschüsse und eine bessere soziale Absicherung, wobei der Schwerpunkt auf einkommensschwachen Gruppen und weniger entwickelten Regionen liegen sollte.
Lu Feng (卢锋), Professor und Direktor des China Macroeconomic Research Center an der Peking Universität, schätzt dies ähnlich ein. Aus seiner Sicht hat China gute Voraussetzungen, im Konflikt mit den USA zu bestehen, muss aber interne Herausforderungen angehen. Lu spricht sich für noch weitergehende institutionelle Reformen aus, darunter die Verbesserung gesetzlicher Rahmenbedingungen, Anpassungen beim Haushaltsregistrierungssystems, bei der Regelung der landwirtschaftlichen Bodennutzung sowie den Ausbau des sozialen Sicherungssystems und öffentlicher Dienstleistungen.
Sun Liping betont, dass die Lebensgrundlage der Menschen nicht hinter den nationalen wirtschaftspolitischen Zielsetzungen stehen sollten. Statt sich nur auf den Ausbau moderner, weitgehend automatisierter Fertigung zu konzentrieren, spricht er sich dafür aus, kleine und mittlere private Unternehmen und den Dienstleistungssektor zu fördern, da sie die meisten Arbeitsplätze schaffen.
Online-Diskussionen spiegeln Sorgen der Bevölkerung vor einem Abwärtstrend
Auch unter chinesischen Internetnutzer:innen werden der Handelskonflikt und seine wirtschaftlichen Auswirkungen intensiv diskutiert. Die Quora-ähnliche Plattform Zhihu widmet dem Thema eine eigene Schwerpunkt-Seite. Im April veröffentlichte die Volkszeitung einen Artikel mit dem Titel „Der Himmel wird nicht einstürzen“, mit der Absicht, die Bürger:innen zu beruhigen. Die darauf folgende Welle an Kommentaren, die den Beitrag als realitätsfern kritisierte, wurde umgehend zensiert. Stattdessen verbreiteten die offiziellen Medien verstärkt Inhalte, die sich über die politischen Entscheidungen der USA lustig machten oder Chinas Stärken in den Vordergrund stellten, ein Paradebeispiel für die staatlichen Bemühungen zur Steuerung der öffentlichen Meinung.
Internet-Memes zeigen Satire und Schadenfreude
Vor allem das Ziel der Trump-Administration, Fabrikarbeit zurück nach Amerika zu holen, zog sofortigen Spott auf sich. Memes machten sich über die naive Vision einer Reindustrialisierung der USA lustig. Einige zeigten Trump, Vance und Musk am Fließband. Mit künstlicher Intelligenz generierte Videos und Bilder unglücklich aussehender amerikanischer Arbeiter:innen gingen viral, und verdeutlichen, wie die Wahrnehmung der Fabrikarbeit in China durch eigene Erfahrungen geprägt ist.
Online-Beiträge und Memes bezogen sich auch auf Trumps offensichtliche Fehlkalkulationen. Ein Weibo-Beitrag verwendete eine Texas Hold'em-Poker-Analogie, um Trumps Selbstüberschätzung und Waghalsigkeit als „Bluff“ zu enttarnen, der angesichts starker und kalkulierter Gegenmaßnahmen Chinas letztlich scheiterte.
Internetnutzer rufen mit Verweis auf chinesische Geschichte zu patriotischem Konsum auf
Einige Internetnutzer:innen stellen die aktuellen Spannungen als Teil einer lang bestehenden amerikanischen Eindämmungspolitik dar. Dabei erinnern sie an das von den USA angeführte Handelsembargo gegen China zwischen 1950 und 1973 sowie an die Einfuhrbeschränkungen für chinesische Textilien in den 1990er Jahren. Anders als damals, so die Kommentatoren, befindet sich China heute jedoch in einer Position wirtschaftlicher Stärke und verfügt über ausreichende Ressourcen, um Widrigkeiten standhalten zu können.
Sowohl auf Zhihu als auch auf anderen Plattformen spiegeln die Kommentare die offiziellen chinesischen Geschichtsnarrative vom „Jahrhundert der Demütigung“ und einem „anhaltenden Kampf gegen den Westen“ wider. Aufrufe zum patriotischen Konsum, um die heimische Wirtschaft zu stärken, kamen von zahlreichen Nutzer:innen unterschiedlichster Plattformen.
Sorgen um Arbeitsplätze und Lebensunterhalt schwingen mit
Die Zhihu-Debatten zeigen aber auch die Ängste und Sorgen der Menschen über mögliche Auswirkungen auf die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt. Einige Kommentatoren bezweifeln, dass China in der Lage sein wird, seine Produkte im bisherigen Umfang im Ausland abzusetzen, Bedenken, die denen chinesischer Wirtschaftswissenschaftler:innen ähneln. Eine hohe Arbeitslosigkeit, zunehmende Ungleichheit oder gar Gefahren für die soziale Stabilität und die demografische Entwicklung identifizieren sie als mögliche Folgen für China.
Wendepunkt für den Welthandel
Die offizielle Botschaft der chinesischen Regierung signalisiert Selbstbewusstsein und Stärke. Doch die inländischen Debatten spiegeln auch erhebliche Sorgen über die Auswirkungen des Handelskriegs wider. Für viele der Wirtschaftsexperten erfordert ein nachhaltiges Wachstum eine Neuausrichtung des chinesischen Wirtschaftsmodells. Internationale Beobachter:innen sollten die von Beijing nach Außen demonstrierte wirtschaftliche Stärke deshalb durchaus kritisch hinterfragen. Reformen können den Binnenkonsum langfristig ankurbeln, jedoch nicht über Nacht.
Experten und die breite Öffentlichkeit halten die zunehmende Feindseligkeit und Reibung mit den USA in absehbarer Zeit für unumkehrbar. In den Äußerungen der Bürger:innen werden zwar Existenzsorgen sichtbar, gleichzeitig zeigt sich aber auch breite Unterstützung für das nationale „Ringen“ im geopolitischen Wettbewerb mit den USA. Patriotische Kampagnen scheinen sich auszuzahlen. Neben den sich hochschaukelnden Zollankündigungen könnten ein TikTok-Verbot oder Beschränkungen für chinesische Studierende in den USA die politischen Spannungen zwischen China und den USA weiter verstärken und in China geführte Debatten über die ungerechte Behandlung chinesischer Unternehmen und Bürger weiter anheizen.
China hat in dieser Runde des Handelskonflikts seine Standhaftigkeit unter Beweis gestellt und seine Bereitschaft, ausländische Abhängigkeiten (z. B. von seltenen Erden) als Hebel zur Durchsetzung eigener Interessen zu nutzen. Doch auch chinesische Experten betonen, dass das Land weiterhin auf den globalen Handel angewiesen ist. Die Mitgliedstaaten der EU sollten darauf achten, wie China seinen Zugang zu ausländischen Märkten aufrechtzuerhalten und zu erweitern versucht, sei es durch Druck, wie bei den Verhandlungen mit der EU, oder durch Anreize, wie bei der Abschaffung von Zöllen für 53 afrikanische Länder Mitte Juni. Eines ist gewiss und spiegelt sich auch in Beiträgen chinesischer Expert:innen wider: China will bei der Gestaltung des nächsten Kapitels der Globalisierung eine zentrale Rolle spielen.
- Endnoten
1 | Für diese Analyse wurden 16 Artikel chinesischer Experten herangezogen, die zwischen April und Juni 2025 auf der Diskussionsplattform „Aisixiang“, auf öffentlichen WeChat Accounts sowie im Magazin „China Reform“ der Caixin Mediengruppe veröffentlicht wurden. Eine weitere wichtige Quelle waren die umfänglichen Expertenanalysen auf dem Blog „Sinification“. Außerdem wurden Kommentare auf der Frage- und Antwortplattform Zhihu untersucht. Die Auswahl erfolgte selektiv, um ein möglichst breites Meinungsspektrum abzudecken.
Die Autorinnen bedanken sich bei unserer ehemaligen Forschungspraktikantin Ariane Kolden für ihren Beitrag zu dieser China Spektrum Analyse.