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MERICS Briefs
MERICS China Essentials
11 Minuten Lesedauer

China im Jahr 2022 – Eine Vorausschau


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Innenpolitik

2022 – das Jahr, in dem Xi auf unbestimmte Zeit die Macht übernimmt

China steht ein potenziell turbulentes Jahr bevor: Nach den Olympischen Spielen in Beijing im Februar werden im März der Nationale Volkskongress (NVK) und die Politische Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes tagen und das wichtigste Ereignis für die Kommunistische Partei im Jahr 2022 vorbereiten – den 20. Parteitag. Xi Jinping dürfte diese Zeit nutzen, um für eine dritte fünfjährige Amtszeit als Parteichef zu werben und diese zu sichern. Er würde nach fast drei Jahrzehnten die Praxis beenden, nach der Generalsekretäre und Staatspräsidenten nach zwei Amtszeiten abdanken. 

2022 werden auch einige der wichtigsten Führungspositionen neu besetzt. Ministerpräsident Li Keqiang und andere Spitzenpolitiker könnten durch loyale Vertraute von Xi ersetzt werden.

Xi wird die Macht, die er seit der Aufhebung der Amtszeitbegrenzung des Staatschefs 2018 und seiner Ernennung zum „Kern der Partei“ aufgebaut hat, wohl noch offener ausspielen. Unter seiner zeitlich dann unbegrenzten Führung wird die KPC die schon 2021 angekündigten sozialen und wirtschaftlichen Reformbestrebungen verstärken.

Nach Definition der KPC tritt China nun in eine „neue Ära“ der Entwicklung ein, die auf die Schaffung von „Gemeinsamem Wohlstand“ abzielt – und die stark durch Xi geprägt werden wird. Das Selbstvertrauen der Partei ist auch durch Erfolge bei der Durchsetzung einer Null-Covid-Strategie gestärkt. Es ist zu erwarten, dass Chinas Innenpolitik 2022 noch stärker ideologisch und durch die Partei geprägt wird. In der Außenpolitik wird China noch vehementer versuchen, Narrative zu kontrollieren und Kritik abzuschmettern. 

MERICS-Analyse: „Chinas Elite wird sich in den kommenden Monaten auf den 20. Parteitag konzentrieren, was intensive Stabilitätsmaßnahmen in allen Teilen der Gesellschaft und ein noch stärker nach innen gerichtetes China bedeuten wird“, so Nis Grünberg, Senior Analyst bei MERICS. „Wenn die Dinge so laufen wie erwartet, wird Xi mit seiner in den letzten zehn Jahren aufgebauten Entourage über den politisch und wirtschaftlich mächtigsten KPC-Apparat in der Geschichte verfügen.“

Medienberichte und Quellen:

Internationale Beziehungen

In Chinas Außenpolitik stehen die Zeichen auf Unnachgiebigkeit

Die Spannungen im indo-pazifischen Raum sind 2021 auf einem Höhepunkt angelangt. China gibt sich angesichts der verstärkten westlichen Militärpräsenz in der Region und wachsende internationale Unterstützung für Taiwan angriffslustig. Beijing entsendet fast täglich Flugzeuge der Volksbefreiungsarmee in die taiwanische Luftverteidigungszone und erhöht den Druck im Südchinesischen Meer. Zugleich zeichnen sich nur wenige Gelegenheiten für eine konstruktivere Auseinandersetzung mit China ab. Chinas Führung wird im Land bleiben und so gut wie nicht ins Ausland reisen. Diplomatische Interaktion dürfte sich auf virtuelle Formate beschränken – mit all ihren Unzulänglichkeiten.

Diese beiden Trends dürften den Ton für Chinas internationales Auftreten im Jahr 2022 angeben. Das Hauptziel Beijings in den kommenden Monaten wird darin bestehen, Stärke und Stabilität zu demonstrieren und größere Störungen der Vorbereitungen für den 20. KPC-Parteitag im November zu vermeiden. China wird sich auf innenpolitische Fragen konzentrieren und – auch aufgrund der Null-Covid-Strategie – auf absehbare Zeit abgeschottet bleiben. 

Gleichzeitig wird sich Beijing in globalen Fragen, die seine Interessen berühren, zunehmend unnachgiebig zeigen, denn alles andere könnte im Inland als Zeichen der Schwäche der Partei oder Xis gewertet werden. Und das will die KPC in einem politisch sensiblen Jahr unbedingt vermeiden.

Der geopolitische Wettbewerb wird sich 2022 verschärfen, da sich China gegen alle Koalitionen auf internationaler Ebene wehren wird, die seinem Aufstieg entgegenlaufen. Die Spannungen im indo-pazifischen Raum werden bleiben. Auch das Thema Konnektivität wird im Mittelpunkt stehen. Beijing wird weiter versuchen die Initiative Neue Seidenstraße (BRI) als „grün“ und „qualitativ hochwertig“ zu vermarkten. BRI soll so mit der US-Initiative „Build Back a Better World“ (B3W) und dem „Global Gateway“- Programm der EU konkurrieren können, die auch auf Nachhaltigkeit und hohe Standards setzen. Auch der systemische „Kampf der Narrative" dürfte im kommenden Jahr dominieren. Auch die Auseinandersetzung über die wahre Bedeutung von Demokratie dürfte fortgesetzt werden und Beijings „Wolfskrieger“-Diplomaten werden wohl noch rigoroser für Chinas Interessen eintreten. 

MERICS-Analyse: „Ein offener Konflikt mit westlichen Ländern ist 2022 äußerst unwahrscheinlich, da die KPC im Vorfeld des Parteitags am Jahresende um Stabilität bemüht ist“, sagt MERICS-Expertin Helena Legarda. „Da sich die Partei stark auf innere Angelegenheiten konzentriert, wird ein Engagement mit China für ausländische Regierungen und Unternehmen gleichermaßen schwierig bleiben. Das beschränkt auch Möglichkeiten, Spannungen abzubauen.“

Wirtschaft

Gemeinsamer Wohlstand? Der große Wirtschaftsumbau wird 2022 nur schleppend vorangehen

2021 hat die chinesische Führung häufig auf zwei Konzepte verwiesen, die das Verhältnis von Wirtschaftswachstum und der Verteilung des Wohlstands im Land neu gewichten sollen. Trotz dieser rhetorischen Bekenntnisse hat Beijing bisher aber nur geringe Fortschritte erzielt.

Die Strategie der zwei Kreisläufe (Dual Circulation Strategy) zielt unter anderem darauf ab, neue Wachstumsquellen zu erschließen und den Übergang vom bisherigen exportorientierten zu einem auf Binnenkonsum basierenden Wachstumsmodell zu vollziehen. 2021 blieb China jedoch stark von Exporten abhängig. Diese wuchsen im Oktober im Jahresvergleich um atemberaubende 27,1 Prozent, während die Einzelhandelsumsätze nur um magere 4,9 Prozent anzogen. Damit setzt sich der Trend aus der Zeit vor der Covid-Pandemie fort. 

Mit dem Konzept des „Gemeinsamen Wohlstands“ verfolgt die chinesische Führung um Xi das Ziel, die Früchte des jahrzehntelangen wirtschaftlichen Wachstums gerechter zu verteilen. Bislang wurden nur kleine Fortschritte erzielt, etwa über Wohltätigkeitsprogramme oder die jeweils 100 Milliarden CNY umfassenden Fonds von Alibaba und Tencent. Immobilienspekulation wurde strenger reguliert, die Einführung von Grundsteuer-Pilotprojekten verspricht höhere Steuereinnahmen. Auch gibt es neue Vorschriften zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen etwa in der Technologiebranche und von Essenslieferanten.

Für eine gerechtere Verteilung und starke Binnennachfrage sind jedoch weitere strukturelle Veränderungen erforderlich, um Einkommen und Kapital vom Staat und Unternehmen auf die Verbraucher, von der Oberschicht auf die Arbeiterklasse und von den wohlhabenden Regionen auf die weniger entwickelten zu verlagern. Solche Veränderungen hätten zunächst eine äußerst destabilisierende Wirkung, weshalb es unwahrscheinlich ist, dass Xi Jinping sie im Vorfeld des 20. Parteitags in die Wege leitet. Die Ende diesen Jahres anstehende „Zentrale Arbeitskonferenz zur Wirtschaft“ dürfte eher eine vorsichtigere Politik empfehlen. 

MERICS-Analyse: „Eine große wirtschaftliche Neuausrichtung in China würde strukturelle Veränderungen erfordern, die sich Xi in den nächsten zwölf Monaten nicht leisten kann“, sagt MERICS-Experte Jacob Gunter. „Umverteilungsmaßnahmen dürften 2022 höchstens oberflächlich vorangetrieben werden. Ob und wie Xi diese Ziele wirklich vorantreiben wird, zeigt sich erst, wenn er auf dem Parteitag seine Autorität festigen konnte. Danach könnte er sich vielleicht sicher genug fühlen, um Deng Xiaopings berühmtes Zitat in die Tat umzusetzen: ‚Lasst zuerst einige reich werden...und dann schrittweise den gemeinsamen Wohlstand verwirklichen‘.“

Mehr zum Thema: Kurskorrektur: Chinas neuer Ansatz für die Globalisierung der Wirtschaft. MERICS China Monitor von Alexander Brown, Jacob Gunter und Max J. Zenglein

Medienberichte und Quellen:

Technologie

2022 bringt neuen Druck für Chinas Tech-Giganten

Beijing erhöht den Druck auf Chinas große Tech-Giganten, ihre Geschäftsstrategien mit den Zielen des Parteistaats in Einklang zu bringen: Alibaba kündigte diese Woche die Ernennung eines neuen Finanzchefs und die Gründung von zwei neuen Geschäftseinheiten im nächsten Jahr an. Diese sollen sich auf den nationalen und internationalen digitalen Handel konzentrieren mit dem Ziel, „langfristige Werte“ zu schaffen. Auf Alibaba wächst der Druck zum Ziel des „gemeinsamen Wohlstands“ beizutragen, statt Gewinne zu maximieren. Die Aufsichtsbehörden hatten Alibaba in diesem Jahr wegen Kartellverstößen mit einer Rekordstrafe belegt, frühere Fusionen erneut überprüft und die Unternehmensführung zu selbstkritischen Richtigstellungen verpflichtet. 

Das Beispiel Alibaba zeigt, was 2022 auf Chinas Tech-Giganten zukommen könnte: neue Vorschriften, vom Datenschutz bis zu Arbeitnehmerrechten, und mehr Einsatz für übergeordnete Ziele. Bislang hat sich Alibaba streng an die neuen Regeln gehalten. Das Unternehmen plant einen „Common Prosperity Development Fund“, für den es bis 2025 13,7 Milliarden EUR (100 Milliarden CNY) bereitstellen will. Auch eine Reihe von Projekten zur Wiederbelebung der ländlichen Wirtschaft und politisch korrekte Slogans – „nachhaltige Entwicklung“, „Inklusivität“ und Unterstützung für „vulnerable Bevölkerungsgruppen“ – sollen das Engagement für Beijings neue politische Agenda zeigen.

Seit Xi eine „vernünftige Anpassung überhöhter Einkommen“ und ein „qualitativ hochwertiges Wachstum für alle“ gefordert hat, hat Tencent, ein weiterer Tech-Riese, ähnliche Versprechen abgegeben. Pinduoduo, Meituan und Xiaomi haben ebenfalls versprochen, für soziale Zwecke zu spenden. Neben der Einhaltung strengerer Vorschriften in den Bereichen Cybersicherheit, Datenschutz und Kartellrecht sind erhebliche Beiträge zum „gemeinsamen Wohlstand“ ein wesentliches Merkmal der neuen Rolle, die die KPC dem Technologiesektor zugedacht hat.

MERICS-Analyse: „2021 hat die KPC erfolgreich die Beziehung zwischen Chinas Privatsektor und der staatlich geführten Wirtschaft neu verhandelt“, sagt MERICS-Experte Kai von Carnap. „Doch die Regierung Xi ist auch auf den Erfolg und die Wettbewerbsfähigkeit von Big Tech angewiesen. Pekings erwartet von großen Technologiefirmen viel, von der Entwicklung neuer Wachstumsmotoren über die Erreichung von Kohlenstoffneutralität bis hin zur Schaffung von gemeinsamem Wohlstand und einheimischer Innovation. Die Spannungen in diesem Bereich werden auch im kommenden Jahr anhalten.“

Mehr zum Thema: Tech regulations bring in sweeping changes. Kurzanalyse und Grafik von Kai von Carnap und Valarie Tan. 

Medienberichte und Quellen: 

Metrix

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So oft werden die Begriffe „Demokratie“ oder „demokratisch“ in dem am 4. Dezember vom Informationsbüro des Staatsrats veröffentlichten Weißbuch „China: Demokratie, die funktioniert“ verwendet. Der Bericht wurde inmitten einer Flut ähnlicher Mitteilungen verschiedener Institutionen in China veröffentlicht, offenbar als Reaktion auf den von den USA gerade veranstalteten „Gipfel für Demokratie“. (Quelle: CGTN)

Profil

Wang Huning: Alles andere als ein weiterer Spitzenjob wäre eine Überraschung

2022 stehen in China zahlreiche Neubesetzungen hochrangiger Positionen an. Ein klarer Kandidat für höhere Würden ist Wang Huning. Der KPC-Chefideologe gilt als Kopf hinter Xi Jinpings autokratischem und ideologischem Kurs. Wang ist seit 2017 Mitglied im mächtigen Ständigen Ausschuss des Politbüros. Er diente bereits Xis Vorgängern: Jiang Zemin berief Wang in das oberste politische Forschungszentrum der KPC, und Hu Jintao machte ihn zu dessen Leiter. 

Der oft als belesener Philosoph beschriebene Wang hat als einziges Mitglied des Ständigen Ausschusses keine praktische Erfahrung mit der Leitung einer Stadt oder Provinz als Bürgermeister oder Parteisekretär. Doch der Einfluss des ehemaligen Professors der Fudan-Universität auf Xi und die KPC ist bemerkenswert. Wang leitet zwei wichtige Zentrale Führungsgruppen für den Aufbau der Partei und Ideologie. Regelmäßig begleitet er Xi auf Reisen.

 Mehrere zentrale ideologische Konzepte, darunter der „China Traum“ und die „Xi Jinping-Gedanken zum Sozialismus chinesischer Prägung“ sollen aus Wangs Feder stammen. Im Zusammenhang mit der im November 2021 verabschiedeten „Historischen Resolution“ der KPC, die Xi eine Schlüsselrolle bei der Rückkehr zur einstigen Größe der chinesischen Nation zuweist, betonte Wang die traditionellen Werte und die Kultur als entscheidend für die politische und soziale Entwicklung Chinas. Bereits in den 1990er Jahren argumentierte Wang, dass das kapitalistische System der USA Schwächen aufweise und ein neo-autoritäres Modell mit einer starken Parteiführung diesem überlegen sei. 

Auf dem 20. Parteitag im November wird der ideologische Vordenker der KPC 67 Jahre alt sein – oder 68, wenn man die in China übliche Zählweise des Alters heranzieht. Nach einer inoffiziellen Regel müssen alle, die 68 Jahre und älter sind, aus dem Ständigen Ausschuss ausscheiden. Wer jünger ist, darf für eine weitere fünfjährige Amtszeit im Amt bleiben. Theoretisch könnte Wang also nächsten Herbst auch in den Ruhestand versetzt werden. Das wäre jedoch ungewöhnlich, denn Xis wichtiger Vertrauter ist eine Schlüsselfigur für die Gestaltung des politischen Denkens in der Partei und im ganzen Land.

Medienberichte und Quellen:

Merics China Digest

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