Senior citizens relax at a park on Lindai Road in Fuyang city, East China's Anhui province, Jan 16, 2025.
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Zu schnell zu alt? - Demografische und strukturelle Herausforderungen für Chinas Rentensystem


China SpektrumDiese Analyse erschien in der Reihe China Spektrum, ein gemeinsames Projekt des China-Instituts der Universität Trier (CIUT) und des Mercator Institute for China Studies (MERICS). Das Projekt wird ermöglicht durch die Förderung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Mehr erfahren Sie hier.


Zusammenfassung

  • Im Januar 2025 hat China damit begonnen, sein im internationalen Vergleich niedriges gesetzliches Rentenalter schrittweise anzuheben – zum ersten Mal seit 70 Jahren. In den nächsten 15 Jahren soll es schrittweise auf 63 Jahre für Männer und auf 55 – 58 Jahre für Frauen angehoben werden.
  • Die Volksrepublik hat eine der am schnellsten alternden Bevölkerungen der Welt. Beamte und Experten warnen schon lange vor den Auswirkungen der demografischen Entwicklungen auf das Sozialversicherungssystems und das Wirtschaftswachstum. 
  • Beijing hat das Rentensystem in den vergangenen Jahrzehnten mehrmals reformiert. Dennoch gibt es strukturelle Probleme: dazu zählen insbesondere soziale und regionale Ungleichheit, Finanzierungslücken und das niedrige Absicherungsniveau.
  • Wang Xiaoping, Chinas Ministerin für Humanressourcen und soziale Sicherheit, nennt in einem Artikel die Nachhaltigkeit des Rentensystems und die Ausweitung der betrieblichen und privaten Vorsorge sowie des Versicherungsschutzes für neue Beschäftigungsformen als wichtige Prioritäten. 
  • Experten zufolge steht China vor der Aufgabe, die sich abzeichnende Lücke in den Rentenkassen zu schließen, ohne die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen zu beeinträchtigen. 
  • Die Kommunistische Partei Chinas (KPC) setzt auf die Kaufkraft älterer Menschen und spricht in diesem Zusammenhang von einer „Silver Economy“ oder „Seniorenwirtschaft“. Ein unzureichendes Sozialversicherungssystem und der mangelnde Beitrag der jüngeren Generationen könnten diese Pläne erschweren und den sozialen Zusammenhalt gefährden. 
  • Die Ankündigungen auf dem Nationalen Volkskongress Anfang März und im nächsten Fünfjahrplan sind wichtige Indikatoren für Beijings Prioritäten für das Rentensystem. 

Nach jahrzehntelangem Zögern passt China das Rentenalter an

Im Januar 2025 hat China damit begonnen, sein im internationalen Vergleich niedriges gesetzliches Renteneintrittsalter zu erhöhen – die erste Anpassung seit 70 Jahren. In den nächsten 15 Jahren soll es schrittweise um drei bis fünf Jahre angehoben werden: auf 63 Jahre für Männer und auf 55 - 58 Jahre für Frauen, je nach Beruf. Nach jahrzehntelangem Zögern wurde das Reformpaket im September letzten Jahres zügig verabschiedet. Angekündigt wurde die Maßnahme zuvor im Beschluss des Dritten Plenums des 20. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) im Juli. Auf dem Treffen verabschiedete Beijing das „Reform- und Modernisierungsprogramm“ für die nächsten fünf Jahre.  

China hat eine der am schnellsten alternden Bevölkerungen der Welt. 2022 ging sie zum ersten Mal seit den 1960er Jahren zurück. 2024 zählte die Volksrepublik rund 310 Millionen Menschen über 60 Jahre – das sind etwa 22 Prozent der Bevölkerung. Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge könnte dieser Anteil bis 2040 auf 28 Prozent bzw. 402 Millionen Menschen ansteigen. Die Lebenserwartung der Menschen ist im Zuge der beeindruckenden wirtschaftlichen Entwicklung Chinas deutlich gestiegen. Durch die niedrige Geburtenrate steht die rasant wachsende Zahl von Rentnern jedoch einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung gegenüber.

Beamte und Experten warnen schon lange vor den Auswirkungen der demografischen Entwicklungen auf Chinas Sozialversicherungssystem und Wirtschaftswachstum. Die Chinesische Akademie der Sozialwissenschaften (CASS) läutete bereits 2019 die Alarmglocken mit ihrer Prognose, bis 2035 könnten die Mittel im Grundrentensystem für Arbeitnehmer aufgebraucht sein. Aktuelle Debatten thematisieren außerdem die Absicherung von Menschen in informellen oder flexiblen Beschäftigungsverhältnissen, stagnierende Einkommen und unsichere Arbeitsplätze.

Reformpläne in einem schwierigen Kontext

Beijing hat das Problem durchaus erkannt. Das verdeutlichen aktuelle politische Dokumente und Maßnahmen. Aufschlussreich ist ein Artikel von Wang Xiaoping, Ministerin für Humanressourcen und soziale Sicherheit. Der Beitrag erschien im Dezember 2024 in der Study Times, ein wichtiges Publikationsorgan der zentralen Parteihochschule, die hochrangige Kader ausbildet.

Die Ministerin betont in ihrem Artikel zunächst die Verbesserungen im chinesischen Sozialversicherungssystem seit dem Amtsantritt von Partei- und Staatschef Xi Jinping 2012. Sie benennt aber auch dringliche Aufgaben:

  • Optimierung der Nachhaltigkeit und Stabilität des Systems durch die Reform des Renteneintrittsalters, verbesserte Finanzierung und „graduelle Anpassungen“ der Leistungen
  • Ausbau der zweiten (Betriebsrente) und dritten Säule (private Altersvorsorge) des Rentensystems 
  • Verbesserungen in der marktorientierten Anlage und Verwaltung von Fonds
  • Ausweitung des Versicherungsschutzes für flexible und neue Beschäftigungsformen sowie Arbeitsmigranten
  • Aufhebung der Beschränkungen für die Sozialversicherung am Arbeitsort durch das Haushaltsregistrierungssystem (hukou)
  • Verbesserung der Aufsicht von Fonds und der Regulierung des Sozialversicherungssystems, einschließlich der Überarbeitung des Sozialversicherungsgesetzes 

Wang räumt ein, dass es schwierig sein könnte, die gegensätzlichen Interessen aller Beteiligten miteinander zu vereinen, bietet jedoch keine konkreten Lösungsmöglichkeiten an. Ebenso wenig geht sie ins Detail bei der Frage, wie die finanziellen Lücken und die soziale Unausgewogenheit bewältigt werden können. Vielmehr betont sie, man müsse „im Rahmen seiner Möglichkeiten handeln“, „von der Realität ausgehen“ und „die Menschen dahin lenken, angemessene Erwartungen zu entwickeln“. Das kann als Eingeständnis der schwierigen Rahmenbedingungen für die Reformen interpretiert werden.  

Experten und ehemalige Entscheidungsträger verweisen auf strukturelle Probleme 

Die Schwerpunktausgabe von „China Reform“ (中国改革) vom Juli 2024 vervollständigt das Bild. Das Magazin gehört zur hoch angesehenen Caixin Mediengruppe. Die Analysen von Experten und ehemaligen Entscheidungsträgern erschienen vor der Reform des Renteneintrittsalters, verdeutlichen jedoch einige der tieferliegenden strukturellen Probleme und widersprüchlichen Ziele.

Für Chinas früheren Finanzminister und ehemaligen Vorsitzenden des Nationalen Rates für den Sozialversicherungsfond, Lou Jiwei, ist „die fehlende Einheitlichkeit lokaler Richtlinien und das fragmentierte Verwaltungssystem“ eine der größten Schwachstellen des chinesischen Rentensystems. Er hält „Chinas Praxis der hierarchischen und dezentralen Verwaltung unter vergleichbaren Ländern für einzigartig. Anstatt es als eine chinesische Besonderheit zu betrachten, müsste man es jedoch vielmehr als chinesische Schwachstelle betrachten“, so Lou. 

Lou fordert eine stärkere nationale Koordinierung. China stehe vor einem Dilemma, wenn es darum geht, die Nachhaltigkeit des Grundrentensystems für Arbeitnehmer zu verbessern: „Eine Anhebung des Beitragssatzes [der bereits recht hoch ist] wird die laufenden Kosten der Unternehmen erhöhen. Und eine Senkung der Lohnersatzrate [die relativ niedrig ist] schade den Rechten und Interessen der Rentner.“

Neben der Reform des Renteneintrittsalters könnte man laut Lou Standards zur Festlegung der Beitragsbemessungsgrundlagen vereinheitlichen und Zuständigkeiten in einer Behörde bündeln. Damit ließe sich die Beitragserhebung effizienter gestalten und der Druck zumindest etwas verringern. Um Nachhaltigkeit zu gewährleisten, bedarf es auch finanzpolitischer Reformen, die jedoch nicht so leicht umzusetzen sind, so Lou. 

Auch Zhou Wenyuan, der am Dong Fureng Institut für Wirtschafts- und Sozialentwicklung an der Universität Wuhan forscht, diskutiert mögliche Lösungen für das Problem der „Rentenlücke“. Er gibt zu bedenken, dass sich seit dem CASS-Bericht von 2019 „viele Variablen verändert haben“. Angesichts der raschen demografischen Entwicklungen, der Coronapandemie und bereits erfolgter Anpassungen des Rentenversicherungssystems „wäre es notwendig, aktuelle Daten und neueste Trends zusammenzuführen [...], um mögliche künftige Defizite neu zu berechnen.“ Seinen Berechnungen zufolge könnten die Mittel des Rentenfonds sogar schon vor 2035 aufgebraucht sein. 

Für Zhou Wenyuan stehen „drei Ziele, nämlich die Aufrechterhaltung eines langfristig hohen Wirtschaftswachstums, die Balance zwischen Fondseinnahmen und -ausgaben und eine bessere Absicherung“ in einem „unlösbaren Dreieck“ zueinander. Er schlägt vor, mehr staatseigenes Kapital in den öffentlichen Rentenfonds zu leiten und spricht sich für eine zentralisierte und stärker marktorientierte Fondsverwaltung aus. 

Zhou Yanli, ehemaliger stellvertretender Vorsitzender der chinesischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen, unterstreicht die Bedeutung von Rentenfinanzinstrumenten und der privaten Altersvorsorge. Letztere wurde Ende 2024 nach einer Pilotphase als dritte Säule des Systems landesweit eingeführt.

Für Zhou Yanli spielen innovative Finanzprodukte und -dienstleistungen und eine „individuelle Rentenplanung“ eine wichtige Rolle. Dafür sind jedoch ein umfassender Regulierungsrahmen sowie eine effektive Marktaufsicht und Verbraucherschutz erforderlich.  Außerdem braucht es „ein besseres Verständnis und eine größere Beteiligung der Bevölkerung an den neuen Finanzprodukten.“ 

Für Zhou Xiaochuan, stellvertretender Vorsitzender des Boao-Forums für Asien und ehemaliger Gouverneur der chinesischen Zentralbank, ist es wichtig, nicht nur Makroanalysen zu Finanzierungsgrundlagen, Mittelerhebung und -verteilung durchzuführen. Auch sozioökonomische Faktoren auf der Mikroebene müssten berücksichtigt werden: etwa wie sich geplante politische Maßnahmen auf Unternehmen auswirken, wie Arbeitnehmer ihre Renten sehen und planen und welche Anreize sie brauchen.

Die Erhöhung der Beitragssätze wäre laut Zhou Xiaochuan nicht ausreichend. Auch die Anhebung des Renteneintrittsalters habe seine Grenzen: die sinkende Arbeitsproduktivität älterer Arbeitnehmer und höhere Gehälter würden die Kosten der Unternehmen in die Höhe und deren Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen. Auf individueller Ebene sind laut Zhou mehr Transparenz und Bewusstseinsbildung erforderlich. Es brauche wirksamere Anreize für individuelle Rentenpläne.

„Das Renten-Defizit wird durch die schnell alternde Bevölkerung und den wirtschaftlichen und sozialen Wandel [...] der jungen Generation aufgebürdet“, sagt Zhou. Er betont damit einen oft vernachlässigten Aspekt: den wachsenden finanziellen und sozialen Druck auf junge Menschen, die sich um ihre Eltern und um ihre Kinder kümmern müssen.  

Internetnutzer sorgen sich um Gerechtigkeit und Gleichheit

Das Thema Renten treibt viele Menschen um, das zeigt sich auch in Online-Debatten. Für ein höheres Renteneintrittsalter wird im Allgemeinen zwar Verständnis geäußert. Dennoch sind die Menschen besorgt über die möglichen Auswirkungen. Viele junge Chinesen können es sich nicht leisten, in das Sozialversicherungssystem einzuzahlen. Andere befürchten eine weitere Erhöhung des Rentenalters und dass sie künftig später weitaus weniger Leistungen erhalten, als sie beitragen. Auch die großen Unterschiede zwischen Beamten, städtischen Angestellten und der Landbevölkerung werden diskutiert. 

Die Online-Debatten zeigen, dass das Vertrauen der Menschen in die Zukunft abgenommen hat und Fragen zu Gerechtigkeit und Gleichheit eine wichtige Rolle spielen. Auch wenn sie nur einen anekdotischen Einblick geben, weisen sie auf mögliche Widerstände für die Umsetzung der Regierungspläne hin. Ohne ausreichende Mittel und Anreize könnte sich der Ausbau besonders der zweiten (betrieblichen) und dritten (privaten) Säule der Altersvorsorge schwierig gestalten.

Schließen von Rentenlücken braucht entschlossenes Handeln

Chinas Rentensystem hat zahlreiche Reformen hinter sich. Die Grundrentenversicherung erfasst inzwischen mehr als eine Milliarde Menschen und wurde an den veränderten Arbeitsmarkt angepasst. Dennoch weist das System grundlegende strukturelle Probleme auf – vor allem in Bezug auf soziale und regionale Ungleichheit, Finanzierung und das Absicherungsniveau. Lange aufgeschobene und dringend notwendige Reformen müssen nun in einem komplexeren und schwierigeren Kontext angegangen werden: eine rasant alternde Gesellschaft, wirtschaftliche Probleme und zunehmend knappe Kassen der Lokalregierungen. Die chinesische Regierung ist sich dessen bewusst und hat entsprechende politische Ziele formuliert. Wie die bestehenden Zielkonflikte gelöst werden sollen, ist derzeit nicht klar.

Die Analysen führender Experten und ehemaliger Entscheidungsträger verdeutlichen die Komplexität des Problems und den hohen Handlungsdruck. Im Gegensatz zu offiziellen Verlautbarungen sprechen einige von ihnen sehr deutlich die erforderlichen Abwägungsprozesse bei der Suche nach Lösungen an. Ihre Lösungsvorschläge, wie die Nutzung von Marktmechanismen für die Fondverwaltung oder zur Ausweitung von Rentenfinanzprodukten, sind jedoch mit Vorsicht zu betrachten. Denn Chinas Finanzmärkte stehen ebenfalls vor großen Herausforderungen. 

Die KPC setzt auf die Kaufkraft älterer Menschen zur Ankurbelung des Konsums und spricht von einer „Silver Economy“ oder „Seniorenwirtschaft“. Ein unzureichendes Sozialversicherungssystem könnte bedeuten, dass der im Alter stark steigende Bedarf für die medizinische Versorgung und Pflege für viele Menschen nicht mehr finanzierbar ist. Damit steigt das Risiko der Altersarmut. Das hätte nicht nur Auswirkungen auf den Konsum, sondern könnte den sozialen Zusammenhalt gefährden. 

Beijing plant die Ausweitung der privaten Altersvorsorge als Ergänzung zu den zum Teil vergleichsweise niedrigen staatlichen Leistungen. Das erfordert jedoch neben einem zuversichtlichen Blick in die Zukunft auch die finanziellen Mittel und die Bereitschaft besonders junger Menschen, in individuelle Vorsorge zu investieren. Die politischen Ankündigungen auf dem diesjährigen Nationalen Volkskongress im März und im nächsten Fünfjahresplan sind wichtige Indikatoren mit Blick auf die Prioritäten Beijings für das Rentensystem.

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