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MERICS Briefs
MERICS China Essentials
12 Minuten Lesedauer

Afghanistan + "Gemeinsamer Wohlstand" + Datensicherheitsgesetz

TOP THEMA: Chinas Interessen in Afghanistan: Zwischen Annäherung und Argwohn gegenüber den Taliban

Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan nach dem Rückzug der US-Truppen hat weltweit für Schlagzeilen gesorgt. In China bezeichnete die parteistaatliche Propaganda den chaotischen Abzug und die Evakuierung von Truppen und Zivilisten als peinlich und als weiteren Beweis dafür, dass die globale Führungsrolle der USA im Niedergang begriffen sei. Zugleich wurden Zweifel an der Verlässlichkeit der USA als Sicherheitsverbündeter geäußert und davor gewarnt, dass Taiwan wie Afghanistan von den USA im Stich gelassen werden könnte. 

Tatsächlich ist die chinesische Führung über die Herrschaft der Taliban in Afghanistan auch besorgt. Das zeigt sich auch in der verschärften Zensur von Online-Diskussionen. Entfernt wurde beispielsweise die chinesische Übersetzung eines Briefes der afghanischen Filmemacherin Sahraa Karimi, in dem diese die internationale Gemeinschaft aufforderte, der Lage von Frauen und Mädchen in ihrem Land Beachtung zu schenken. Auch ein Weibo-Beitrag der People's Daily wurde nach Kritik an einer beschönigenden Darstellung der Taliban rasch entfernt. 

Beijing propagiert seine Politik der Nichteinmischung in die innenpolitischen Angelegenheiten anderer Länder sowie der friedlichen Koexistenz als Modell für die künftige Zusammenarbeit mit Afghanistan. Chinas parteistaatliche Medien versuchen unterdessen, die Taliban in ein positives Licht zu rücken. Der chinesische Auslandssender CGTN zitierte Außenminister Wang Yi, der die Taliban dafür lobte, dass sie positive Signale an die Welt senden würden. Ein ehemaliger chinesischer Minister bezeichnete das vom Krieg zerrüttete Land als Goldgrube für chinesische Bauunternehmen und Investoren. Die Aussicht auf eine Beteiligung am Wiederaufbau Afghanistans ließ auch die  Aktienkurse chinesischer Baufirmen steigen. 

MERICS-Analyse: Beijing bereitet den Boden für eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Taliban im rohstoffreichen Afghanistan vor. Chinesische Projekte in afghanischen Kupferminen und Ölfeldern sind unter der von den USA gestützten afghanischen Regierung ins Stocken geraten. Nun könnte China die Gelegenheit zur Expansion sehen. Die Taliban haben Beijing als Freund bezeichnet und ihre Hoffnung auf eine stärkere chinesische Beteiligung an der wirtschaftlichen Entwicklung Afghanistans geäußert. Dass beide Seiten ihre Bereitschaft signalisiert haben, die Zusammenarbeit zu vertiefen, lässt Rückschlüsse auf die künftigen Beziehungen der beiden Länder zu: Solange die Taliban in der Lage sind, die Bedingungen Beijings zu erfüllen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis Geschäfte abgeschlossen werden und China seine wirtschaftliche Präsenz in Afghanistan ausweitet.  

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Medienberichte und Quellen: 

METRIX

89,200

Die Bevölkerung Hongkongs ist im Jahr nach dem Inkrafttreten des Nationalen Sicherheitsgesetzes für Hongkong (Hong Kong National Security Law, HKSNL) um 89.200 Personen zurückgegangen. Das ist der stärkste Rückgang in der Geschichte der Stadt. Im Jahr zuvor wurde ein Rückgang von 20.900 Personen verzeichnet. Hongkonger Experten bezeichneten diese Entwicklung als "alarmierend". Sie spiegelt auch die Sorge der Bürger über die zunehmende Einschränkung ihrer Freiheiten durch das HKNSL wider: Zehntausende Menschen haben Sondervisa für das Vereinigte Königreich oder Kanada beantragt. Darüber hinaus haben Umfragen der US-Handelskammer ergeben, dass die strengen Einreise- und Ausreisebestimmungen aufgrund der Covid-19- Pandemie viele ausländische Unternehmen veranlasst haben, ihren Aufenthalt in der Stadt zu überdenken. (Quelle: SCMP

Xi macht „gemeinsamen Wohlstand“ und sozialen Ausgleich zur Priorität

Die Fakten: Bei einem Treffen der mächtigen Finanz- und Wirtschaftskommission hat Staats- und Parteichef Xi Jinping die Schaffung eines „gemeinsamen Wohlstands“ zur Priorität erklärt. Die wachsende Ungleichheit im Land soll bekämpft und der Reichtum von den Spitzenverdienern auf ärmere Bevölkerungsschichten umverteilt werden. Das Ziel ist eine ausgeglichenere Einkommensverteilung mit einer großen Mittelschicht und wenigen Superreichen und Armen. Unmittelbar nach der alljährlichen Sommerpause des innersten Führungskreises der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) in Beidaihe hat Xi mit seiner Ansprache ein starkes Signal gesendet. 

Der Blick nach vorn: Das Schlagwort vom „gemeinsamen Wohlstand“ ist in Beijing in aller Munde. Als offizielle Pilotprovinz wurde Zhejiang ausgewählt, das zu den reichsten Regionen des Landes zählt. Dort haben viele der Technologieunternehmen ihren Hauptsitz, die derzeit auch von den Aufsichtsbehörden überprüft werden. Einige von ihnen haben bereits auf die Forderungen nach einem „gemeinsamen Wohlstand“ reagiert und Wohltätigkeitsorganisationen gegründet. Unterdessen wird in der Provinzhauptstadt Hangzhou gegen den Parteisekretär ermittelt, dem „disziplinarische Verstöße“ – also Korruption – vorgeworfen werden. Zudem wurden tausende von Beamten aufgefordert, persönliche oder familiäre Geschäftsbeziehungen zu beenden, die einen Interessenkonflikt darstellen könnten. 

MERICS-Analyse: Nachdem die absolute Armut in China offiziell für beseitigt erklärt wurde, soll nun das Problem der ungleichen Verteilung von Vermögen gelöst werden. Große Privatunternehmen stehen vor zwei Herausforderungen: zum einen werden Daten und Wettbewerb künftig strenger reguliert. Hinzu kommt nun der auch populistisch und ideologisch motivierte Vorstoß, um der „unbändigen Expansion“ von privatem Kapital Einhalt zu gebieten und Ressourcen in einkommensschwache Bevölkerungsgruppen umzuverteilen. Die Gründung von Wohltätigkeitsorganisationen durch Firmen wie Tencent und Meituan zeigt, dass die Unternehmen sich dessen bewusst sind. Solange jedoch die effektivsten Mechanismen zur Umverteilung des Reichtums, nämlich Einkommens-, Vermögens- und Grundsteuer, unangetastet bleiben, wird der soziale Ausgleich nur schwer zu erreichen sein. 

Medienberichte und Quellen: 

“Goldene Aktien”: Chinesische Regierung sichert sich offenbar Anteil an ByteDance

Die Fakten: Die chinesische Regierung hat sich Berichten zufolge einen Anteil am TikTok-Mutterkonzern ByteDance gesichert. Laut dem Medium The Information hat ByteDance im April einen Anteil von einem Prozent an WangTouZhongWen verkauft. Dabei handelt es sich um ein Unternehmen, das sich im Besitz von drei staatlichen Akteuren befindet. Mit dem Anteil geht auch eine Position im Vorstand einher, was chinesische und ausländische Experten zu Spekulationen veranlasst hat, dass WangTouZhongWen de facto über ein Vetorecht verfügen könnte. 

Der Blick nach vorn: Es scheint, als ob Beijing „Goldene Aktien“, also Minderheitsbeteiligungen mit einer Vorstandsposition oder sogar einer Mehrheit der Stimmrechte, derzeit im Technologiesektor testet. Die Idee wurde in chinesischen Debatten in den vergangenen Monaten mehrfach geäußert. Die Financial Times zitierte Brancheninsider, nach denen die Regierung möglicherweise auch Anteile am Fahrdienstvermittler Didi hält. Weitere könnten folgen und massive Auswirkungen auf die Tech-Branche und darüber hinaus haben. 

MERICS Analyse: „Die Maßnahmen werden dadurch begründet, dass datenbezogene Probleme mit nationalen Sicherheitsinteressen in Einklang gebracht werden müssen“, sagt Jacob Gunter, Senior Analyst bei MERICS. „Da immer mehr Branchen datenbasierte Lösungen einsetzen, könnte nicht nur der Technologiesektor betroffen sein. Europäische Unternehmen sollten die politische Risikoüberwachung in China verbessern und die Kapazitäten ihrer Compliance-Abteilungen verstärken, bevor weitere Verschärfungen folgen.“ 

Medienberichte und Quellen: 

NVK verabschiedet Datensicherheitsgesetz

Die Fakten: Der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses (NVK) hat in den vergangenen Wochen und Monaten eine Reihe von folgenreichen Gesetzen verabschiedet. Diese werden China mit neuen Instrumenten ausstatten, um unter anderem gegen ausländische Sanktionen vorzugehen, Beamte unter strengere Aufsicht zu stellen und der Überalterung der Bevölkerung entgegenzuwirken, indem Paaren erlaubt wird, künftig drei Kinder zu bekommen. 

Besondere Aufmerksamkeit erregten zwei Gesetze, die Beijings Kontrolle über in China gesammelte Daten ausweiten sollen: das am 10. Juni vom NVK verabschiedete Datensicherheitsgesetz und das am 20. August verabschiedete Gesetz zum Schutz personenbezogener Daten. Die beiden Gesetze treten im September bzw. November in Kraft und ändern grundlegend, wie aus China stammende Daten gesammelt, verwendet, verwaltet und grenzüberschreitend übertragen werden dürfen. Beijing möchte sicherstellen, dass Daten als strategisches Gut und nicht als allgegenwärtige und reichlich vorhandene Ressource behandelt werden. Für chinesische und ausländische Unternehmen dürfte es nun schwieriger werden, datenbasierte Geschäftsmodelle zu entwickeln und Daten über Grenzen hinweg zu übertragen, da Datensicherheit und die Privatsphäre chinesischer Nutzer künftig strenger überprüft werden. Zugleich wird der chinesische Parteistaat seinen Einfluss und die Kontrolle über die Digitalwirtschaft festigen. 

Die neuen Datengesetze sind Teil einer beispiellosen Welle von Regulierungen, die in China in den vergangenen Monaten veröffentlicht wurden und Technologieunternehmen neue Verpflichtungen in Bereichen auferlegen, die vom Kartellrecht bis zur Cybersicherheit reichen. Die Regulierungen schaffen die Grundlage für die neue Rolle, die die Kommunistische Partei Chinas (KPC) für heimische Internetunternehmen vorsieht: weg von einer übermäßigen Konzentration auf verbraucherorientierte Produkte und Dienstleistungen und hin zu einer stärkeren Ausrichtung an den strategischen Zielen der KPC. Die Entwicklungen zeigen auch, dass Beijing eine breiter angelegte Umgestaltung des Privatsektors verfolgt. 

  • Datensicherheitsgesetz (中华人民共和国数据安全法): Das Gesetz ist Chinas erstes umfassendes Regelwerk zum Schutz der Datensicherheit. Es führt ein System zur Verwaltung verschiedener Datenkategorien ein, die auf der Bedeutung der Daten für die nationale Sicherheit basieren. Es enthält auch neue Bestimmungen zur Regulierung des grenzüberschreitenden Datentransfers. 
  • Gesetz zum Schutz personenbezogener Daten (中华人民共和国个人信息保护法): Das Gesetz ähnelt der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) der EU und ermöglicht Internetnutzern, der Erfassung und Verarbeitung ihrer Daten zuzustimmen oder diese abzulehnen. Die endgültige Fassung des Gesetzes enthält einige Änderungen. Zum Beispiel schränkt es die Möglichkeiten von Unternehmen ein, Nutzerprofile zu erstellen und Empfehlungsalgorithmen einzusetzen. Anders als die DSGVO soll die grenzüberschreitende Übertragung von personenbezogenen Daten eingeschränkt oder unterbunden werden, wenn sie eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellt.    
  • Richtlinien für Daten von vernetzten Fahrzeugen (加强智能网联汽车生产企业及产品准入管理的意见): Automobilhersteller müssen Fahrzeugdaten- und Sicherheitsmanagementsysteme einrichten. Zudem müssen Fahrzeugbetreiber in China gewonnene Daten im Land speichern und die Zustimmung der Nutzer zur Erfassung personenbezogener Daten einholen. 
  • Sicherheitsbestimmungen für kritische Informationsinfrastrukturen (关键信息基础设施安全保护条例): Die Verordnungen konkretisieren den erstmals im Cybersicherheitsgesetz von 2017 festgelegten Begriff der kritischen Informationsinfrastrukturen und sehen für bestimmte Industriezweige eine besonders genaue Cybersicherheitsprüfung vor. Unternehmen in bestimmten Branchen müssen ihre Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen im Bereich der Cybersicherheit mit den Aufsichtsbehörden abstimmen.   
  • Regeln zum Verbot des unlauteren Wettbewerbs im Internet (禁止网络不正当竞争行为规定): Die Regeln, die noch bis zum 15. September öffentlich kommentiert werden können, sollen wettbewerbswidrigem Verhalten entgegenwirken und die Verwendung von Nutzerdaten durch Internetunternehmen einzuschränken. 

Medienberichte und Quellen: 

IM PROFIL: Evergrande - Immobilienriese legt Schwachstellen des Finanzsystems offen

Mit Evergrande steht aktuell das angeblich wertvollste Immobilienunternehmen der Welt auf dem Prüfstand. Der 1996 von CEO Xu Jiayin gegründete und gemessen am Umsatz zweitgrößte Immobilienentwickler Chinas hat sich in den vergangenen Jahren hoch verschuldet und ist derzeit mit über 100 Mrd. USD in den roten Zahlen. Im August stuften mehrere Rating-Agenturen das Unternehmen nur wenige Stufen über die Ausfallgrenze herab.  

Chinas Aufsichtsbehörden und Regierung stehen vor einem heiklen Balanceakt. Das Unternehmen ist "zu groß, um zu scheitern", doch die staatlichen Planer fürchten auch das moralische Risiko einer Rettung des Unternehmens. Die Regierung hat daher versucht, Evergrande zum Verkauf von Vermögenswerten und zu einem besseren Schuldenmanagement zu bewegen. Das Unternehmen veräußerte bereits eine Reihe von Beteiligungen und nahm vor kurzem Gespräche über den Verkauf eines Teils seines Elektroauto-Geschäfts auf.  

Diese Maßnahmen sind Teil eines allgemeineren Vorgehens gegen den Immobiliensektor, bei dem Beijing zwei große Ziele verfolgt. Erstens soll das systemische Risiko gemindert werden, das von einer übermäßig fremdfinanzierten Branche mit der ständigen Gefahr einer Immobilienblase ausgeht. Zweitens soll die Immobilienspekulation eingedämmt werden, die die Immobilien- und Mietpreise in die Höhe getrieben hat und dazu führte, dass sich viele Angehörige der Mittelschicht keine Wohnung oder kein Haus mehr leisten können. 

Medienberichte und Quellen: