A TV news shows a map marking the areas where China is conducting live fire exercises near Taiwan, at a beauty salon in Taipei, Taiwan, Thursday, Aug 4, 2022
MERICS Briefs
MERICS China Essentials
13 Minuten Lesedauer

Spannungen um Taiwan

TOP THEMA

China will regelmäßige Militärmanöver in der Taiwanstraße und droht mit „Vorgehen gegen Separatisten“

Chinas Regierung wertet den Taiwan-Besuch der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, als Signal der offenen Unterstützung der taiwanischen Unabhängigkeit und einer Abkehr von der sogenannten strategischen Ambiguität. Diese Haltung sollte China von einer Invasion Taiwans und Taipeh von der Erklärung der Unabhängigkeit abhalten. 

Wegen dieser wahrgenommenen Neupositionierung sieht sich Beijing nun ermächtigt, die "historische Mission der Wiedervereinigung mit Taiwan“ noch entschlossener zu verfolgen. Als Reaktion auf den Besuch setzte China die Zusammenarbeit mit den USA in acht Bereichen aus, darunter auch in der Klimapolitik, Verteidigung und grenzüberschreitenden Verbrechensbekämpfung. 

Auf seinem offiziellen Weibo-Account kündigte das Regionalkommando Ost der chinesischen Volksbefreiungsarmee (VBA) nach dem Abschluss der Militärübungen der vergangenen Tage regelmäßige Manöver in der Taiwanstraße an, um die Kampfbereitschaft seiner Truppen zu erhöhen. China will seine militärische Präsenz in der Region verstärken. In einem am Mittwoch veröffentlichten Weißbuch bekräftigte Beijing, Taiwan notfalls mit Gewalt einnehmen zu wollen und kündigte Maßnahmen zur Bekämpfung von „Separatisten“ an. 

Seit Pelosi vergangene Woche in Taipeh landete und mit Präsidentin Tsai Ing-wen zusammentraf, hat die Volksbefreiungsarmee den Druck auf Taiwan erhöht und Dutzende von Überflügen mit Kampfflugzeugen und Drohnen sowie Seeüberquerungen mit Kriegsschiffen durchgeführt. Etwa 20 chinesische und taiwanische Marineschiffe sollen sich in der Taiwan-Straße Gefechte geliefert haben. Der taiwanische Aktivist Yang Chih-yuan wurde in China festgenommen. Ihm werden “separatistische” Aktivitäten und die Gründung einer pro-taiwanischen Unabhängigkeitspartei vorgeworfen. 

Chinas Machtdemonstration soll Kampfbereitschaft signalisieren und die taiwanische Seite verunsichern. Die Übungen sind zu dieser Jahreszeit allerdings üblich. Sie finden tagsüber statt. Überraschungsmomente gab es kaum. Beijing gab sogar eine Vorwarnung aus, damit Handelsschiffe und Flugzeuge ihre Routen anpassen konnten. Die Manöver, der wirtschaftliche Druck und andere Drohungen bleiben dennoch Teil einer Kampagne, mit der Taiwan durch maximalen Druck gezwungen werden soll, sich zu unterwerfen.  

Drohungen, Sanktionen und Übergriffe aus China sind für Taiwan nicht neu. Entschieden, aber zugleich darauf bedacht, die Spannungen nicht weiter zu verschärfen, versetzte Taipeh seine Verteidigungskräfte in höchste Alarmbereitschaft. Es setzte Schiffe und Flugzeuge ein, um chinesische Schiffe zu überwachen und verfolgen, die Angriffe in der Nähe Taiwans simulierten. Zudem hielt Taiwan diese Woche eigene Artillerie-Übungen ab. 

Parlamentarier des gesamten politischen Spektrums in Taiwan verurteilten Beijings Vorgehen und riefen zugleich zu Ruhe und Dialog auf. Der Vorsitzende der pro-chinesischen Kuomintang-Partei, Eric Chu, unterstützte öffentlich Pelosis Besuch und verurteilte Chinas militärische Aggression – auch wenn einige seiner Kollegen eine andere Meinung vertraten. Die Eskalation findet zu einem für Taiwan politisch bedeutsamen Zeitpunkt statt. Im November stehen Lokalwahlen an, und nächstes Jahr beginnt der Wahlkampf für die Präsidentschaftswahl 2024.

Zugleich hat die Situation in Taiwan auch Ängste geschürt. Die während der Covid-19-Pandemie unterbrochenen Luftschutzübungen auf der ganzen Insel wurden wieder aufgenommen. Taipeh hat außerdem eine App entwickelt, mit der die Einwohner den nächstgelegenen Luftschutzbunker in der Hauptstadt finden können. Die Nachfrage nach Erste-Hilfe- und Selbstverteidigungskursen ist gestiegen, und es wurden mehr Mittel für die Aufstockung der Kampftruppen bereitgestellt. Die Regierung arbeitet derzeit auch an einem Vorschlag zur Verlängerung der Wehrpflicht für Männer. 

Präsidentin Tsai warnte vor den Gefahren von psychologischen Taktiken durch Desinformationskampagnen in den sozialen und traditionellen Medien. Zuvor waren Falschmeldungen verbreitet worden, wonach Pelosi von Tsais Regierung mit Millionenbeträgen für einen Besuch in Taiwan bezahlt worden sei sowie Gerüchte, dass China seine Bürger aus Taiwan evakuieren wolle. 

Auf Seiten des US-Militärs wurde der Pelosi-Besuch zwar als „keine gute Idee“ gesehen, aber begrüßt, dass dieser trotz aller Risiken mehr Licht auf Chinas Vorgehen geworfen hat. Die jüngsten Militärübungen simulierten eine Umzingelung der Insel, welche Taiwan im Falle eines Konflikts von Unterstützung abschneiden könnte. 

Bei Chinas Aktionen handelt es sich jedoch nicht um eine einmalige Vergeltungsmaßnahme gegen Pelosi. Die Volksbefreiungsarmee bereitet sich schon seit langem darauf vor, die Insel zu erobern, die sie als eigenes Territorium ansieht. Da sich Xi Jinping auf dem anstehenden 20. Parteitag der KPC im Herbst eine dritte Amtszeit als Parteichef sichern will, wäre ein Krieg für die Führung derzeit ein großes Risiko. 

"Es ist unwahrscheinlich, dass die Spannungen zwischen Beijing und Taipeh in naher Zukunft nachlassen, denn Chinas langfristiges Ziel ist die Wiedervereinigung", so MERICS-Expertin Valarie Tan. "Die ausgedehnten Militärübungen bergen allerdings Risiken unkontrollierter Eskalation. Eine umfassende Krise in der Taiwan-Straße könnte auch Beijing erheblich belasten.“ 

Medienberichte und Quellen:

METRIX

12 

Chinas militärische Eskalation in der Taiwan-Straße hat die Aufmerksamkeit auf die Grenzverläufe in der Region gelenkt. Sehr bekannt ist Taiwans Luftverteidigungs-Identifikationszone, die sich weit über die Insel hinaus erstreckt. Doch im Moment sind die vielleicht wichtigsten Grenzen die Medianlinie, die die 180 Kilometer breite Taiwanstraße teilt, und die 12-Seemeilen-Linie vor der taiwanischen Küste, die den Luftraum des Landes markiert. Chinesische Überschreitungen der De-facto-Seegrenze sind selten, und nach internationalem Recht könnte ein Eindringen in den taiwanischen Luftraum einen direkten militärischen Konflikt auslösen. Bei den jüngsten Militärübungen Chinas überquerten mehrere Kriegsschiffe die Medianlinie, aber offenbar drang kein Militärflugzeug viel weiter in den taiwanischen Luftraum ein. Nach Pelosis Besuch hat die Volksbefreiungsarmee Karten veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass einige Übungen mit scharfen Waffen in Taiwans Luftraum reichen würden, allerdings nur geringfügig. (Quellen:  CNN, Reuters, Focus Taiwan)

THEMEN

China erhöht wirtschaftlichen Druck auf Taiwan – aber mit Bedacht

Begleitend zu den chinesischen Militärübungen rund um Taiwan wegen Pelosis Besuch verhängte Beijing neue Handelsbeschränkungen gegen die Insel. Der chinesische Zoll blockiert die Einfuhr von 2.000 der 3.200 Warengruppen von taiwanischen Agrarexporten. Diese machen zwar nur einen Bruchteil des bilateralen Handelsvolumens von insgesamt 328 Mrd. USD aus. Beijing scheint dabei jedoch gezielt die ländlichen Gebiete Taiwans treffen zu wollen, in denen die Demokratische Fortschrittspartei von Präsidentin Tsai Ing-wen viele Unterstützer hat. 

Gleichzeitig blockiert China die Ausfuhr von Sand nach Taiwan, was kurzfristig größere Auswirkungen haben dürfte als die Einfuhrverbote. Taiwan bezieht rund 90 Prozent seiner Sandimporte aus China, der Ausfuhrstopp dürfte die taiwanische Bauindustrie schwer treffen. Hinzu kommt, dass die Militärübungen der chinesischen Streitkräfte die Handelsströme beeinträchtigen. Frachtschiffe mussten die Insel umfahren, anstatt die Meerenge zu passieren. Manche Schiffe, die in taiwanischen Häfen ein- und ausliefen, wurden durch chinesische Schießübungen in der Nähe der sogenannten Schiffsverkehrs-Servicezonen behindert. 

Verglichen mit früheren Maßnahmen handelt es sich bei den aktuellen Handelsbeschränkungen nur um eine kleine Eskalation, auch wenn sich Beijing zuvor meist auf ein oder zwei spezifische Produkte oder Beschränkungen für den chinesischen Gruppentourismus nach Taiwan beschränkt hatte. Ein grundlegender Wandel in den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zeichnet sich derzeit nicht ab. Den Hightech-Sektor, in dem China stark von Taiwan abhängig ist, hat Beijing nicht angetastet und dürfte davon auch absehen, denn taiwanische Maschinen und Hightech-Produkte, insbesondere Halbleiter und integrierte Chips, sind für China essenziell. Sollte Beijing bei diesen Sektoren ansetzen, um Druck auf Taiwan ausüben, würde es sich damit selbst schaden. 

Auch die Ausweitung von Schießübungen oder eine Blockade in der Taiwan-Straße wären letztlich von Nachteil für China. Denn das Land ist auf taiwanische Technologien angewiesen. Störungen von Taiwans Handelsaktivitäten würde daher unweigerlich auch Chinas wirtschaftliche Entwicklung beeinträchtigen. 

MERICS-Analyse: "Beijing nutzt nach dem Besuch von Pelosi bekannte Maßnahmen, um Taiwan wirtschaftlich unter Druck zu setzen", sagt MERICS-Experte Jacob Gunter. "Dazu gehören Beschränkungen für nicht-strategische Handelsgüter und kurzzeitige Unterbrechungen für Frachtschiffe. Sollte Beijing eines Tages tatsächlich drastischere Schritte ergreifen, wäre das ein Zeichen dafür, dass die Volksrepublik bereit ist, einen hohen wirtschaftlichen Preis für die demokratische Insel mit ihren 23 Millionen Einwohnern zu zahlen." 

Medienberichte und Quellen:

China wird seine roten Linien in Bezug auf Taiwan enger ziehen

Fünf ballistische Raketen, die das chinesische Militär als Reaktion auf den Taiwan-Besuch von Nancy Pelosi abgefeuert hatte, landeten in den Gewässern der japanischen Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) in der Präfektur Okinawa, etwa 370 Kilometer vor der Küste. Premierminister Fumio Kishida bezeichnete Chinas Militärmanöver daher als ernste Bedrohung für die nationale Sicherheit seines Landes. Die militärischen Ambitionen Beijings werden in Japan seit langem mit Sorge beobachtet. Die Raketen waren eine deutliche Botschaft an Tokio, sich nicht in Angelegenheiten rund um Taiwan einzumischen. 

Der Abschuss von Raketen auf japanisches Gebiet schürt die Sorgen in der Region über Chinas Vorgehen. Die Regierung von Südkorea, nach Taiwan die nächste Station von Pelosis Asienreise, achtete darauf, eine gewisse Distanz zu der Besucherin zu wahren. So tauschte sich Präsident Yoon Suk-yeol lediglich in einem Telefongespräch und nicht persönlich mit Pelosi aus. Die Regierung Yoon scheint bedacht, die Wogen zu glätten. Sie sorgt sich um die Auswirkungen, die Pelosis Besuch, Chinas Militärübungen und eine mögliche Blockade auf den Handel mit Taiwan und dessen Halbleiterindustrie haben könnten. 

Die Furcht vor einer Eskalation in der Taiwan-Straße hat die etablierten diplomatischen Routinen erschüttert. Beijing zieht die Grenzen dessen, was es für akzeptabel hält, neu. Auch Europa bekommt die Auswirkungen zu spüren: Der Austausch auf parlamentarischer Ebene hat traditionell eine wichtige Rolle in den Beziehungen zwischen den europäischen Ländern und Taiwan. Anfang Juli sagte Wu Hongbo, Chinas Sonderbeauftragter für Europa, bei einer Abschiedsfeier für den ehemaligen EU-Botschafter in China, dass Beijing jede Maßnahme europäischer Parlamentarier als offizielle EU-Politik betrachte. Allerdings ist unklar, ob dies auch für Mitgliedstaaten einschließt. So ist aus Sicht Beijings das Engagement Litauens für Taiwan keine Angelegenheit der gesamten EU.

Die Mitglieder des Europäischen Parlaments und der parlamentarischen Ausschüsse planen trotz Beijings scharfer Reaktion auf Pelosis Reise Besuche in Taiwan. Der Ausschuss für internationalen Handel (INTA) des Europäischen Parlaments plant im Spätherbst einen Besuch. Nach Angaben der Zeitung „Taipei Times“ will auch eine Delegation deutscher Abgeordneter Anfang Oktober nach Taiwan reisen.

Mittel- und osteuropäische EU-Staaten sind nach wie vor die Hauptbefürworter von engeren Beziehungen zu Taiwan. Die litauische Regierung plant weiterhin im September die Eröffnung einer Handelsvertretung in Taiwan.  Andere Mitgliedsstaaten scheuen vor einer Vertiefung der Beziehungen mit Taipeh zurück. Die vorsichtigere EU-Kommission wiederum könnte versuchen, parlamentarischen Delegationen von Besuchen in Taiwan abzuraten, um eine weitere Eskalation zu vermeiden.

MERICS-Analyse: "Es zeichnet sich ab, dass Beijing die Grenzen dessen enger definiert, was es bei bilateralen Beziehungen mit Taiwan als akzeptabel erachtet", sagt MERICS-Expertin Francesca Ghiretti. "China könnte nach künftigen Besuchen Taiwans gezielt wirtschaftlichen Druck auf die EU ausüben. Wenn es der EU jedoch gelingt, geeint aufzutreten, dürften die Auswirkungen symbolischer Natur sein und keine Konsequenzen für die Bereiche der Wirtschaftsbeziehungen umfassen, die China wichtig sind." 

Medienberichte und Quellen:

Hohe Zahl chinesischer Cyberangriffe auf Taiwan – aber wenig koordiniert

Als bekannt wurde, dass Nancy Pelosi Taipeh besuchen würde, musste Taiwan eine noch nie dagewesene Zahl von Cyberattacken auf Regierungsstellen abwehren. Die unkoordinierte Art der Angriffe veranlasste die taiwanische Regierung und viele Experten zu der Schlussfolgerung, dass dahinter vor allem nationalistische Hacker aus China stehen dürften. 

Das Volumen der Angriffe übertraf mit 15.000 Gigabit den bisherigen Tagesrekord um das 23-fache. Taiwans Außenministerium war von einem verteilten Denial-of-Service-Angriff betroffen, bei dem die Angreifer die Server mit bis zu 17 Millionen Zugriffsversuchen pro Minute überschwemmten. Dafür verwendeten sie hauptsächlich chinesische und russische Internetadressen. APT-27, eine mutmaßlich mit Chinas Ministerium für Staatssicherheit in Verbindung stehende Hackergruppe übernahm auf Youtube die Verantwortung für einige Angriffe. 

Die taiwanische Regierung stellte ihre Websites binnen nur 20 Minuten nach dem Entdecken der Angriffe wieder her, ein Zeichen für Taiwans Raffinesse in diesem Bereich. Taiwan richtet derzeit ein Ministerium für digitale Angelegenheiten ein, das sich mit der digitalen Widerstandsfähigkeit befassen soll. Die designierte Leiterin der Behörde, Audrey Tang, hat einen IT-Hintergrund. 

Taiwan verfügt auch über eine große Gemeinschaft von Open-Source-Hackern, die sich für gesellschaftliche Belange einsetzen. Nachdem zum Beispiel ein Konto im taiwanischen sozialen Netzwerk PTT als Desinformationsquelle identifiziert worden war, machten sich die Nutzer daran, das Konto zu entlarven – und fanden heraus, dass es ein echtes Konto war, das gehackt und gekapert worden war. Außerdem gibt es auf der Insel ein Faktencheck-Zentrum, sodass chinesische Desinformationsversuche es schwer haben. 

Taiwan hat Cyber-Verbündete in der ganzen Welt, staatliche wie zivile. Da Cyberangriffe nach internationalem Recht nicht als Kriegshandlung eingestuft werden, können sich westliche Sicherheitsdienste einschalten, ohne dabei größere geopolitische Konsequenzen zu riskieren. Dass die westliche Hackergruppe Anonymous kürzlich eine chinesische Regierungswebsite gehackt hat, zeigt, dass die zivilgesellschaftliche Hacker-Gemeinschaft im Westen eher auf Taiwans Seite steht. 

MERICS-Analyse: "Cyberangriffe auf taiwanische Ziele um den Besuch von Nancy Pelosi in Taipeh herum waren umfangreich, verwendeten aber keine ausgefeilten oder zerstörerischen Mittel. Das bedeutet, dass sie wahrscheinlich von nationalistischen Hackern ausgingen, die von den chinesischen parteistaatlichen Medien angespornt wurden", sagt MERICS-Expertin Antonia Hmaidi. "Die chinesische Regierung verschleiert ihre Cyberfähigkeiten, um den Erfolg möglicher künftiger Angriffe abzusichern. Angesichts der hochentwickelten Hackerszene Taiwans und der Beteiligung internationaler Akteure würde ein gezielter und ausgefeilter Angriff Taiwan und dem Westen nämlich viel über Chinas Fähigkeiten verraten." 

Medienberichte und Quellen:

REZENSION

Disaggregating China Inc.: State strategies in the liberal economic order, von Yeling Tan (Cornell University Press, 2021)

Auf 200 dichten, aber klar verständlichen Seiten wirft Yeling Tan ein neues Licht auf die Entwicklung von Chinas Wirtschaftssystem seit dem Beitritt zur WTO – und damit auch der liberalen internationalen Wirtschaftsordnung – im Jahr 2001. Die Autorin seziert die inneren Dynamiken des chinesischen Systems und beschreibt, wie sich das aus ihrer Sicht anfangs ernsthafte Bemühen, dem Geist der WTO gerecht zu werden, langsam, aber stetig in einen staatsgetriebenen und interventionistischen Ansatz verkehrte.  

Tan analysiert die Auswirkungen der chinesischen Politik auf die Industrie, verschiedene Regierungsebenen und öffentliche Einrichtungen von 2001 bis 2014. Auf Grundlage einer Sprachanalyse kategorisiert sie politische Maßnahmen als marktsubstituierend (direktiv), marktgestaltend (entwicklungsorientiert) oder marktfördernd (regulierend). Sie stellt einen plötzlichen Wandel im Jahr 2006 fest – als bei Behörden im ganzen Land der regulierende von einem direktiven Ansatz abgelöst wurde. 

Dies geschah nach Interpretation der Autorin, weil die Verantwortlichen auf lokaler und regionaler Ebene bei einer interventionistischen Politik das Risiko, gemaßregelt zu werden, geringer einschätzten. Die Zentralregierung verfügte damals nur über begrenzte Möglichkeiten zur Disziplinierung lokaler Akteure. Tan präsentiert zahlreiche interessante Erkenntnisse – zum Beispiel den eindeutigen Beweis, dass die Regionen Chinas, die der WTO-bedingten Zoll-Liberalisierung am stärksten ausgesetzt und die am wenigsten diversifiziert waren, eher dazu neigten, von einer marktfördernden zu einer marktsubstituierenden Politik überzugehen.

Tan analysiert überzeugend die komplexen Phänomene, die China veranlassten, das internationale Regelwerk beiseitezuschieben. Dieser Sinneswandel trug unter anderem auch zur derzeitigen Krise der Nachkriegs-Wirtschaftsordnung bei. Die beiden größten Volkswirtschaften der Welt, die USA und China, streiten seit fünf Jahren über Handel und Technologie, und fast ebenso lange liegen die WTO-Schlichtungsmechanismen auf Eis. Zu beachten ist allerdings: Tans Studie endet im Jahr 2014, ihre Erklärungen lassen sich daher nicht einfach die staatlich gelenkte Wirtschaft unter Xi Jinping übertragen.  

Rezension von François Chimits

MERICS CHINA DIGEST

Chinese court rejects TV intern's #MeToo case appeal (Reuters)

Ein Gericht in Beijing hat die Berufung der früheren CCTV-Praktikantin Zhou Xiaoxuan abgewiesen, die einem der prominentesten Moderatoren des Staatssenders sexuelle Belästigung vorgeworfen hatte. Der Gerichtsentscheid ist ein Rückschlag für die #MeToo-Bewegung im Land. (22/08/10)

China watchdog investigates three more execs linked to chip-focused Big Fund (Reuters)

Drei frühere und aktuelle Führungskräfte eines Unternehmens, das Chinas größten staatlich-unterstützten Investitionsfonds für Chips leitet, werden von Chinas Korruptionsaufsicht CCDI untersucht. Bereits in den vergangenen Wochen hatte diese Untersuchungen in der Chip-Industrie eingeleitet. (22/08/10)