China’s digital platform economy: Assessing developments towards Industry 4.0
Studie
8 Minuten Lesedauer

Chinas digitale Plattformökonomie: Eine Bestandsaufnahme im Kontext von Industrie 4.0

Herausforderungen und Chancen für deutsche Akteure

Zusammenfassung

Die digitale Plattformökonomie wird Chinas industrielle Zukunft prägen

Die chinesische Führung hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, bis zum 100. Geburtstag der Volksrepublik im Jahr 2049 zu einer Supermacht in Wissenschaft und technologischer Innovation zu werden. Ein zentrales Vorhaben in diesem Rahmen ist die Digitalisierung der Industrieproduktion. Der Aufbau digitaler Plattformen gilt in der verarbeitenden Industrie als wichtige Voraussetzung um Produktivität zu steigern, die Verteilung von Ressourcen zu optimieren und Beschäftigung zu schaffen.

Andere Länder, darunter insbesondere Deutschland mit seiner starken industriellen Basis und seinen umfassenden Erfahrungen auf dem Gebiet der „Industrie 4.0“, können von Chinas Dynamik profitieren. Deutsche Unternehmen wie Siemens, SAP und Bosch engagieren sich bereits heute in dem neu entstehenden chinesischen Wirtschaftszweig digitaler Industrieplattformen. Europäische Akteure müssen aber auch auf Herausforderungen gefasst sein. Der Wettbewerb läuft bereits: Mit China wächst ein bedeutender Konkurrent im „Kampf um industrielle Daten“ heran, wie EU-Kommissar Thierry Breton kürzlich kommentierte. Nachdem Europa bis dato in vielen Bereichen der Digitalisierung hinter den USA und China zurückgeblieben ist, versucht es bei der Digitalisierung der Industrie eine führendere Rolle zu spielen.

China investiert massiv in die vierte industrielle Revolution

China investiert erhebliche Mittel, um bei der vierten industriellen Revolution an führender Stelle dabei zu sein. Die Beratungsfirma Gartner schätzte Chinas Ausgaben im Bereich IT-Technologien im Jahr 2018 auf 2,6 Billionen CNY (337 Milliarden EUR). Der Anteil von Software und Rechen-zentrumsanlagen belief sich auf 250 Milliarden CNY (32 Milliarden EUR). Die Unterstützung von Regierungsseite inspiriert auch Unternehmen, verstärkt in dem Bereich zu investieren, zum Beispiel in das Internet der Dinge (IoT). Laut Schätzungen von Markbeobachtern wird sich bis 2025 ein Drittel – 4,1 Milliarden – der weltweiten industriellen IoT-Verbindungen (IIoT) in China befinden.

Die chinesischen digitalen Industrieplattformen stellen sich bereits jetzt dem globalen Wettbewerb. Eine der bedeutendsten Plattformen ist das von der China Aerospace Science & Industry Corporation Limited (CASIC) errichtete INDICS. Das staatliche High-Tech-Unternehmen steht unter direkter Kontrolle der Regierung. Auch die von dem Haushaltsgeräte- und Elektronikhersteller Haier und dem Internetriesen Alibaba entwickelten digitalen Plattformen für Industrieanwendungen werden zunehmend genutzt.

Der strategische Kontext: Digitale Plattormen sind entscheidend für die Modernisierung der Industrie

Chinas Förderung der digitalen Plattformökonomie ist im Zusammenhang mit verschiedenen politischen Initiativen zur Förderung von Innovation zu betrachten. Dazu gehören Initiativen wie „Internet Plus“, „Made in China 2025“ und „China Standards 2035“, eine Strategie für die Entwicklung von Standards für innovative Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI), Cloud Computing, das Internet der Dinge oder Big Data. Die Etablierung digitaler Plattformen für industrielle Anwendungen wird getrieben von unternehmerischen Interessen chinesischer Internetriesen und von staatlichen Anstößen zur Verschmelzung traditioneller Industrien mit fortschrittlicher Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT).

Die Industrieproduktion in China ist in vielen Bereichen noch nicht sehr weit entwickelt – das ist einer der Hauptgründe dafür, dass einerseits digitalen Dienstleistungsplattformen florieren, anderer-seits die industrielle Digitalisierung noch in den Anfängen steckt. Erfolgsbeispiele aus China sind die Videoplattform TikTok, das eCommerce-Portal Taobao und die viele Funktionen umfassende Plattform WeChat des Tencent-Konzerns. Auf der anderen Seite nutzen zum Beispiel noch relativ wenige chinesische Unternehmen Cloud-Lösungen. Der Anteil lag laut einer chinesischen Umfrage 2018 lediglich bei 30,8 Prozent (USA: 50 Prozent, Deutschland: 73 Prozent).

Chinas Regierung will hier aufholen: eine Million Unternehmen sollen nach ihrem Willen „in die Cloud gehen“, eine entscheidende Voraussetzung für die Nutzung digitaler Plattformen. Ebenso hat sie das Ziel ausgegeben, dass bis 2020 eine weltweit führende digitale Industrieplattform, zehn branchenübergreifende Plattformen und 300.000 industrielle Anwendungen entstehen sollen. Spezielle Pilotprojekte sollen helfen und Druck auf Industrie und die IKT-Branche erzeugen, die ehrgeizigen Zielvorgaben von oben zu erreichen. Eine regelmäßige Anpassung der Ziele ist hierbei Teil der Strategie.

Die Akteure: China koordiniert die Entwicklung des industriellen Internets von oben

Das chinesische Ministerium für Industrie und Informationstechnologie (MIIT) steuert federführend die Entwicklung digitaler Industrieplattformen. 2018 veröffentlichte das MIIT erstmals eine Liste von 93 industriellen Internetprojekten zum Aufbau, zur Skalierung, Regulierung und Standardisierung chinesischer Plattformen. Das erste Projektbündel wurde von Chinas Finanzministerium (MOF) mit 4,9 Milliarden CNY (679 Millionen EUR) finanziert.

Das MIIT führt auch den Vorsitz in der Allianz des Industriellen Internets (AII), dem wichtigsten Forum für das Zusammenspiel zwischen politischen Entscheidungsträgern und der Industrie. Die AII wurde 2016 gegründet und hat mehr als 1300 Mitglieder. Dazu gehören auch ausländische Unternehmen wie zum Beispiel SAP, Siemens, Schneider Electric und GE. Die Allianz bestimmt unter anderem die technischen Standards für die industriellen Internetplattformen Chinas.

Staatseigene Unternehmen sind mit der Errichtung branchenspezifischer Plattformen beauftragt, so hat zum Beispiel eine Tochter des Ölriesen Sinopec eine Plattform für die petrochemische Industrie errichtet.

Das Ergebnis: Chinas digitale Industrieplattformen machen schnelle Fortschritte

Drei Faktoren treiben die Etablierung digitaler Industrieplattformen in China: Strategische Initiativen der Regierung sorgen dafür, dass staatseigene Unternehmen in Schlüsselsektoren Plattformen entwickeln. Dann sind private Unternehmen ebenfalls aktiv geworden, und die großen Internet- und Telekommunikationskonzerne erschließen angesichts stagnierender Nutzerzahlen auf ihren B2C-Plattformen zunehmend den Bereich B2B.

Im Juni 2019 wurde die „Konvergenzplattform Industrielles Internet für zentral verwaltete staatseigene Unternehmen“ ins Leben gerufen. Ihr gehören 289 staatseigene Betriebe an, darunter Großunternehmen wie die China State Shipbuilding Corporation, der Stahlhersteller Baosteel (der seit 2015 mit Siemens kooperiert) und der das zur Sinopec-Gruppe gehörende Unternehmen Petrochemical Yingke. Viele der Unternehmen haben bereits Cloud-Plattformen eingerichtet, die Konvergenzplattform soll gemeinschaftliche Forschung und Entwicklung inspirieren und Synergien schaffen.

COSMOPlat von Haier gehört zu den erfolgreichsten Plattformen des Privatsektors, sie wird in zwölf Branchen genutzt – von Textilien über Elektronik bis hin zu Keramik. Nach eigener Aussage bedient sie 35.000 Unternehmen mit 320 Millionen Endnutzern. Die Nutzung von Daten zum Konsumenten-verhalten ist für die Optimierung der industriellen Fertigung und den Aufbau einer Industrie 4.0 zentral. Chinesische IKT-Unternehmen wie Alibaba, Tencent, Huawei und Baidu können hier auf Daten aus einem riesigen Pool von Internetnutzern zurückgreifen.

Einige chinesische IKT-Akteure werden von ihren Stärken in der Entwicklung innovativer Anwendungen profitieren. Die weltweit erste Open-Source-Technologieplattform für autonome  Fahrzeuge, Apollo von Baidu, verfügt zum Beispiel bereits über 130 Firmenpartner, darunter große deutsche Autobauer.

Die Vorbehalte: China mangelt es an Kernkompetenzen für die Plattformentwicklung

Chinesische Experten diskutieren offen die Schwächen, welche sich trotz der zahlreichen Initiativen für den Aufbau einer digitalen Plattformökonomie für die chinesische Industrie offenbaren. Ihre Erkenntnisse werden durch die Analyse in der vorliegenden Studie bestätigt. China ist weiterhin strukturell abhängig von im Ausland produzierten Kernkomponenten, wie zum Beispiel industrieller Software. Hieraus ergeben sich Chancen für ausländische Unternehmen.

China fehlen einheimische Lösungen in wesentlichen Bereichen der Architektur industrieller Internetplattformen. Dazu gehören:

  • Sensoren: Die Volksrepublik muss nahezu 80 Prozent der fortgeschrittenen Sensoren und bis zu 90 Prozent der Chips importieren, um die Inlandsnachfrage zu befriedigen.
  • Geräteverbindung: Im Jahr 2019 wurden 95 Prozent der hochwertigen Speicherprogrammierbaren Steuerungen (SPS) und gängigen Kommunikationsprotokolle (CIP) importiert. Die mangelnde Kompatibilität der Produkte unterschiedlicher ausländischer Firmen stellt ebenfalls ein Problem dar.
  • Software as a Service (SaaS): Mehr als 90 Prozent der in China eingesetzten Industriesoftware aus dem High-End-Segment sind ausländischer Herkunft. Unternehmen wie SAP, Microsoft und Salesforce beherrschen den chinesischen Markt.

Chinas Lösungen: Standardsetzung und experimentelle Strategien sollen Schwächen beseitigen

Chinas Regierung ist sich der Defizite bewusst und hat Pläne entwickelt, diese zu überwinden. Folgende Schwerpunkte gehören dazu:

  • Die Ausarbeitung regional spezifischer Pilotprojekte mit Einbeziehung der Lokalregierungen, staatlicher und privater Unternehmen (wie Alibabas SupET in Zhejiang, CASICloud in Guizhou oder XREA von XCMG in von der Seidenstraßen-Initiative berührten Ländern)
  • Das Experimentieren mit stärker marktgesteuerten Finanzierungsmechanismen, einschließlich Privatkapital-Investitionen, zur Reduzierung der dominierenden staatlichen Subventionen
  • Die Ausarbeitung eines umfassenden Systems zur Standardisierung des industriellen Internets bis 2020

Bislang erschweren fehlende Vorgaben zu Kompatibilität, Dateneigentum und -sicherheit im Bereich IIoT chinesischen Unternehmen die Tätigkeit in diesem Bereich. Chinas Regulierungsbehörden wollen daher bis 2020 robustere technische Standards in Kraft sehen und ein grundlegendes Standardisierungssystem für das industrielle Internet einrichten.

Die meisten der 324 chinesischen Standards für das industrielle Internet müssen noch offiziell formuliert werden. Die AII selbst stuft die Standardisierung von Plattformen in China noch als in der Frühphase befindlich ein. Standardisierung ist somit ein Bereich, in dem ausländische Akteure weiterhin mit China zusammenarbeiten können und sollten.

Partnerschaft unter Bedingungen: Ausländische Beteiligung hängt von Chinas Technologiebedarf ab

Offiziell betonen chinesische Vertreter regelmäßig den grenzüberschreitenden, für alle Seiten nutzbringenden („Win-Win“) Charakter der digitalen Plattformökonomie. Von dem in manchen Strategiepapieren verankerten Streben nach Autarkie oder der Entwicklung eigener chinesischer, entkoppelter Lösungen und einem daraus folgenden Ausschluss ausländischer Akteure ist offiziell nicht die Rede.

Viele der in der vorliegenden Studie analysierten digitalen Plattformen sind mit Hilfe strategischer Partnerschaften mit ausländischen Firmen wie Siemens, Bosch, SAP oder GE entstanden und profitieren von ausländischer Forschung. Doch China will langfristig einheimische Kapazitäten entwickeln und die eigenen Firmen gegenüber ausländischen Konkurrenten in eine Position der Stärke versetzen.

Unsere Beobachtungen legen nahe, dass ausländischen Akteuren ein Einfluss auf die regulatorischen Entwicklungen (auch) im Bereich digitaler Industrieplattformen nur begrenzt möglich ist. Das Regulierungsumfeld begünstigt einheimische Lösungen in der digitalen Plattformökonomie. Cybersicherheit und Datenvorschriften sind die größten Herausforderungen für ausländische Unternehmen, die in Chinas digitaler Plattformökonomie erfolgreich bestehen wollen.

Konsequenzen für Deutschland: Chancen erkunden und Risiken mindern

Für China ist Deutschland ein wichtiger Partner bei der Entwicklung einer eigenen Industrie 4.0. Deutsche Unternehmen und Institutionen spielen auch bei der Etablierung digitaler Industrieplattformen in China zentrale Rollen. In Forschung und Entwicklung arbeiten beide Länder in dem Bereich eng zusammen. Zum Beispiel:

  • Das hinter COSMOPlat von Haier stehende Forschungs- und Entwicklungsinstitut pflegt starke Verbindungen zu mehreren deutschen Forschungsinstituten.
  • Siemens hat die Entwicklung der Cloud-Plattform INDICS von CASICloud von Beginn an unterstützt.


Die Möglichkeiten deutscher Plattformanbieter, chinesischen Kunden Dienstleistungen anzubieten sind hingegen noch begrenzt. In den Bereichen Nutzung/Integration von Sensoren, der Verbindung von Geräten oder bei „Software as a Service“-Lösungen könnten sich jedoch Chancen eröffnen.

Fest steht: Die rasanten Fortschritte Chinas im Bereich der digitalen Industrieplattformen erfordern die Aufmerksamkeit deutscher Akteure in Politik und Wirtschaft auf verschiedenen Ebenen. Deutschland darf nicht zögern, potenzielle Risiken zu mindern.

Empfehlungen für deutsche Akteure

  1. Chinas Stärken differenzierter betrachten. Dies erfordert unter anderem ein solides Verständnis der Innovationsfähigkeit Chinas, welches über Leuchtturmprojekte hinaus-reicht. Um die chinesische Plattform-Ökonomie realistisch zu beurteilen, ist mehr Forschung zu regionalen Besonderheiten und Entwicklungsstadien nötig.
  2. Zusammenarbeit mit China konditionieren. China ist immer noch stark abhängig von ausländischen IIoT-Komponenten und -Diensten. Deutsche Akteure können dies nutzen, um mehr Transparenz bei der Anwendung von Regularien zur Cybersicherheit und gleichen Marktzugang für ausländische Unternehmen zu fordern. Zugleich liegt eine intensive Zusammenarbeit mit China im Bereich Industrie 4.0 im deutschen Interesse.
  3. Aus Chinas besonderem politischen Umfeld entstehende Risiken mindern. Chinas Streben nach Eigenständigkeit beim industriellen Internet stellt deutsche Partner vor Herausforderungen. Gemeinsame Forschung muss an Bedingungen geknüpft sein; der Schutz geistigen Eigentums muss bei Kooperationsverhandlungen Priorität haben.

Die vorliegende MERICS-Studie basiert auf einer gründlichen Recherche und eingehenden Analyse einer großen Zahl chinesischer Quellen mit Datenstand von Dezember 2019. Die Autoren haben offizielle Politikdokumente seit 2015 und Forschungspapiere chinesischer Experten systematisch ausgewertet. Maßgeblich eingeflossen sind zudem Erkenntnisse aus ausführlichen Interviews mit 25 Experten aus Politik, Unternehmen und Forschungseinrichtungen.

Autor(en)
Autor(en)